Das Voraussehen von Entwicklungen gehört zu Stefanie Babsts Beruf: Zwei Jahrzehnte lang war die deutsche Strategie-Expertin in hochrangigen Positionen bei der NATO tätig, unter anderem leitete sie die Abteilung Planung und Strategie beim westlichen Militärbündnis.
KURIER: Trotz der Geländegewinne der ukrainischen Armee ist noch kein Wendepunkt im Krieg in Sicht. Was wäre ein Wendepunkt? Stefanie Babst: In der militärischen Strategie gibt es den Begriff: “Center of Gravity“ – demnach muss man dem Gegner den Hauptschlag dort zufügen, wo er am verwundbarsten ist. Das könnte die Krim sein. Aber die Frontlinie ist sehr lang. Vermutlich wird es der Süden sein, wo die ukrainische Operationsführung versuchen könnte, fokussiert zuzuschlagen. Die Rückeroberung von Cherson wäre sehr wichtig. Wenn die Ukraine auch noch Mariupol zurückgewinnen könnte, wäre das fantastisch. Dann hätte die Ukraine wieder echten Zugang zum Schwarzen Meer.
Was braucht die Ukraine dafür in den nächsten Monaten?
Die Ukraine braucht das gesamte Arsenal der Verteidigung: Luft- und Artilleriesysteme, Panzer, Munition, Ausrüstung und weiter nachrichtendienstliche Unterstützung. Und mit Blick auf die russischen Angriffe gegen die zivile Infrastruktur auch Notstromaggregate, mobile Wärmepumpen und dergleichen, um über den Winter zu kommen. Der Ausgangspunkt unserer Hilfe muss sein, mit den Ukrainern gemeinsam zu überlegen: Wie sieht die operative Planung für 2023 aus? Doch dieses Rational taucht in der deutschen Debatte überhaupt nicht auf. Da geht es immer nur um die Frage: Was können wir noch erübrigen.
Wird der Westen es angesichts von Inflation und Sanktionen durchhalten, die Ukraine weiter zu unterstützen, militärisch, finanziell, politisch?
In vielen europäischen Ländern bröckelt das öffentliche Verständnis für diesen Krieg. Und das liegt nicht nur an den zu hohen Gasrechnungen, sondern auch daran, dass es sich kaum jemand vorstellen kann, was es heißt, in einem Land zu leben, wo ein konventioneller Krieg tobt, den die allermeisten nur aus Spielfilmen kennen.
Die deutsche Bundesregierung hat der Bevölkerung bis jetzt nicht wirklich erklärt, welchen konkreten strategischen Plan sie verfolgt, um gegen Russland vorgehen; jenseits der Sanktionen und Waffenhilfe für die Ukraine. Zu sagen, die Ukraine werde so lange unterstützt, wie es nötig sei, ist kein stategisches Ziel. Das ist nebulös und trägt allenfalls dazu bei, dass sich immer mehr Menschen fragen: Wie lange soll das eigentlich dauern? Was heißt das für mein eigenes Leben?
Die USA dagegen scheinen eine klarere Haltung zu haben. Was ist dran am Vorwurf, dass dieser Krieg in Wahrheit einer zwischen Russland und der USA sei?
Es gibt ein Kriegsziel von Herrn Putin, das ist die Vernichtung der Ukraine. Und dann gibt es den größeren globalen Kontext – und in diesem sieht sich Russlands als strategische Gegenmacht zu den liberalen, demokratischen Staaten des Westens und der USA ganz besonders.
Wie ernst sind Putins Drohungen mit Atomwaffen zu nehmen? Kann man Anzeichen für so ein Vorgehen erkennen?
Es gibt auf westlicher Seite Satellitenaufklärung und andere Mittel, mit denen nach Anzeichen gesucht wird, ob Russland bestimmte nuklearfähige Einheiten verlegt. Die NATO kann das gegenwärtig nicht erkennen, und das ist erst einmal beruhigend. Aber ich gehe davon aus, dass Russland in einigen Wochen seine jährliche Nuklearübung abhalten wird. Das wird die Nerven bei vielen nochmals strapaziern.
Sie rechnen also nicht mit einem atomaren Angriff?
Nein, das tue ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht. Ich sehe Russlands nukleare Drohgebärden eher als Versuch der Einschüchterung und Erpressung, um westliche Politiker, aber auch die breite Öffentlichkeit aufzuschrecken. Nuklearwaffen sind ein integraler Bestandteil von Russlands Selbstverständnis als einer Großmacht, die sich – wie Putin uns nun zeigt – mit Hilfe atomarer Drohungen in Europa nehmen kann, was sie will. Wenn wir Moskau das durchgehen lassen, macht es Schule – und andere Atommächte beschließen morgen, dass sie ihren jeweiligen Nachbarn auch vernichten wollen.
Müssen wir aber mit mehr hybriden Angriffen rechnen?
Im Prinzip ist es nichts Neues, dass Russland hybride Instrumente zur Durchsetzung seiner strategischen Ziele einsetzt. Wir wissen seit langer Zeit, dass Putin es auf unsere kritische Infrastruktur abgesehen hat.
Das sind Pipelines, das können aber auch Häfen, unsere Energieversorgung oder Kommunikationssnetze sein. Wahrscheinlich werden wir in Zukunft mehr von diesen Angriffen sehen.
Sie treten dafür ein, die Ukraine in der NATO aufnehmen. Mit welcher Begründung?
Die Ukraine wird von uns ausgerüstet und ausgestattet, und das ist gut und richtig. Aber sie kämpft diesen Kampf mit einem sehr hohen Blutzoll alleine gegen Russland. Meine Befürchtung ist, dass wir in eine Art permanenten Stellvertreterkrieg hineingeraten könnten: Russland zerstört die Ukraine weiter und weiter und die NATO schaut quasi hinter ihrem eigenen Zaun zu. Um der Ukraine echte Sicherheit zu geben, sie nachhaltig zu schützen und Präsident Putins Aggression zu stoppen, wäre ich sehr dafür, die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Das jetzige Russland wird so lange eine Gefahr für Europa sein, wie es dieses Putin-Regime gibt. Putin würde sich zweimal überlegen, ob er die NATO militärisch angreifen will. Nach acht Monaten Krieg sind seine Streitkräfte im konventionellen Bereich bereits reichlich reduziert, dass ein Angriffsszenario auf etwa die baltischen Staaten oder Polen fast schon unwahrscheinlich ist.
Das Gegenargument für eine Aufnahme der Ukraine in der NATO ist : Sie will nicht in den Krieg hineingezogen werden
Aber wir sind Kriegspartei. Das sind wir natürlich nicht im völkerrechtlichen Sinne, aber Putin hat uns den Krieg bereits erklärt.
Wem genau?
Uns, dem Westen. Nicht explizit, sondern graduell und sukzessive. Russlands Desinformationskampagnen, seine Cyberangriffe, die Mordanschläge in unseren Ländern und viele anderes bis hin zur Annektion der Krim haben deutlich gemacht, dass Putin in keiner Weise eine strategische Partnerschaft mit uns sucht, sondern uns als Bedrohung für Russland sieht. Die für uns relevante Frage lautete: Wie viele atomare Drohungen wollen wir noch hören? Wie viele hybride Angriffe sind wir bereit zu akzeptieren? Wie viele Butchas und Mariupols?
Viele bei uns hoffen, dass dieser Mann möglichst bald verschwindet und sein System kollabiert. Aber dafür gibt gegenwärtig nur wenige konkrete Anzeichen. Wir können unser eigenes politisches Handeln doch nicht von der vagen Hoffnung abhängig machen, ob ein autoritäres, kleptokratisches System erodiert oder nicht. Wir müssen unsere eigenen Interessen proaktiv gegenüber diesem Regime vertreten.
Würde “proaktiv“ bedeuten, dass die NATO doch Kampftruppen in die Ukraine schickt?
Das ist momentan unrealistisch. Aber es gibt den Begriff der strategischen Ambiguität. Man lässt den Gegner über seine eigenen Ziele bewusst im Unklaren. Dieses Prinzip könnte der Westen mehr anwenden und nicht immer sofort sagen, was wir alles nicht breit sind zu tun. Das haben wir von Anfang an gemacht: “Wir wollen keinen Krieg mit Russland. Wir werden keine Flugverbotszonen einrichten. Wir werden keine NATO-Schiffe in das Schwarze Meer schicken.“ Wenn man so mit dem Kreml kommuniziert, gibt das Präsident Putin eine gewisse Sicherheit, um seinen Krieg gegen die Ukraine voranzutreiben. Nach dem Motto: Ich kann weiter jeden Tag 70 Raketen auf Kiew schießen; der Westen wird darauf direkt nicht reagieren.
Grundsätztlich bin ich der Meinung, dass wir irgendwann entscheiden müssen, wo wir einen Schlussstrich ziehen und Putin deutlich sagen: bis hierhin und nicht weiter. Russlands Krieg gegen die Ukraine ist der größte und fundamentalste Konflikt, den wir seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa erleben: er erfordert außerordentlichen Mut, um außergewöhnliche Entscheidungen zu treffen. Dies ist ein „Churchill-Moment“ - doch leider haben wir im Westen keinen Churchill. Wir brauchen zumindestens eine umfassende, wohl koordinierte und mutige Strategie, um das Putin-Regime an allen Fronten zurückzudrängen. Und auch, wenn man unsere Politiker es nicht offen aussprechen: das Ziel des Unterfangens muss sein, dieses Regime in Russland in die Knie zu zwingen.
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