Warum Putins Tage gezählt sind: "Er ist nur eine Übergangs-Figur"
Von den europäischen Träumen der Zaren, der Macht und der Machtlosigkeit der Kreml-Fürsten bis zur Hassliebe für den moralisch abgewirtschafteten Westen: Es gibt kaum einen Historiker, der die Leitmotive der russischen Geschichte so virtuos jongliert wie Mark Galeotti. Im Gespräch mit dem KURIER macht er deutlich, wie man dem Wesen dieses Riesenreichs und seiner Herrscher mithilfe dieser Leitmotive auf die Spur kommt.
KURIER: Putin bezieht sich regelmäßig auf Peter den Großen. Warum ausgerechnet dieser Zar, und was will er damit beweisen? Mark Galeotti: Peter der Große hat erfolgreiche Kriege gegen Europas Großmächte geführt. Putin hat ihn wohl deshalb als Vorbild gewählt. Aber er hat auch schon andere Zaren dafür verwendet. Er ist leider ein miserabler Historiker. Ständig bedient er sich willkürlich historischer Motive und Vergleiche, die er dann nicht mehr los wird.
Und Putins grundsätzliche Beziehung zu Europa?
Beruht wie bei den meisten russischen Herrschern auf Missverständnissen. Die glaubten schon immer, dass man sich aus der europäischen Kultur nach Belieben etwas herauspicken konnte, so wie bei einem Buffet. Peter der Große hat nie verstanden, dass die Leistungen etwa der Niederländer, die er
so bewunderte, auf einer freien Gesellschaftsordnung beruhten, die es in Russland nicht gab. Zugleich aber fühlten sich viele Zaren und fühlt sich Putin heute als der letzte Verteidiger europäischer Werte. Der Rest sei vom Westen, also von Amerika, korrumpiert worden. Man war das letzte Bollwerk wahrer Werte, das Europa retten musste.
Russland, so meint Putin, braucht, anders als europäische Länder, eine harte Hand, eine starke Zentralgewalt in Moskau. Diese Zentralgewalt hat sich in Wahrheit nie so gegen die regionalen Machthaber durchsetzen können, ob das nun die Bojarenfürsten des Mittelalters waren oder die korrupten Kreiskommissare in der Sowjetunion unter Breschnew. Moskau war immer weit weg, man hörte es, ignorierte es und bestahl es, so gut es ging. Putin handhabt das so, dass er den Gouverneuren der Regionen viel Macht überlässt, aber auch Verantwortung, etwa die Rekrutierung von Truppen für die Ukraine. Wirklich effizient ist dieses System aber nicht.
Wie mächtig sind die Oligarchen? Bei ihnen gibt es zurzeit einen wichtigen Generationswechsel. Jene Generation, die nach dem Zerfall der Sowjetunion alle Reichtümer des Landes zusammengeraubt hat, ist jetzt in ihren 60ern und will ihr Vermögen an ihre Kinder vererben. Dafür aber brauchen sie Rechtssicherheit, also einen funktionierenden Rechtsstaat. Das steht im Widerspruch zu Putins Allmachtsansprüchen. Das eröffnet noch keine Aussicht auf Demokratisierung, aber: Ohne einen funktionierenden Rechtsstaat gibt es keine Demokratie. Das ist die Lehre aus der Ära von Boris Jelzin, als man ein demokratisches Experiment versuchte, ohne einen Rechtsstaat zu haben. Die Ergebnisse waren katastrophal.
Wird Russland also zur totalen Diktatur unter Putin, oder gibt es Aussichten auf eine Gegenbewegung?
Es gibt eine russische Zivilgesellschaft, auch weil Putin in seinen ersten Jahren zuließ, dass die sich entwickelte. Diese Zivilgesellschaft ist noch ein Erbe der Ära von Michail Gorbatschow, Ende der 1980er. Das ist auch einer der Gründe, warum Putin Gorbatschow so hasst. Diese Zivilgesellschaft ist unter Druck, auch weil Putin versucht, den Weg in den Totalitarismus einzuschlagen. Aber das wird auf Dauer auch in Russland nicht gelingen.
Russland und seine Gesellschaft sind Europa heute näher als je zuvor in ihrer Geschichte. Oppositionelle wie Alexej Nawalny sind – anders als einst die Dissidenten der Sowjetunion – Figuren, die eine positive Idee verkörpern. Sie stehen für Optimismus, für die Aussicht auf eine Zukunft ohne Putin.
Putin ist also nur eine Übergangsfigur, so werden ihn eines Tages die Historiker sehen. Er ist gewissermaßen der letzte Atemzug des Sowjetmenschen.
Wird also Russland zerfallen, als quasi das letzte Kolonialreich der Welt?
Russland hat noch Grundzüge eines Kolonialreichs, aber die Ethnien und Kulturen in diesem Land sind längst miteinander verschmolzen. Auch in den entlegenen Regionen dieses Landes, die von Minderheitenkulturen geprägt sind, gibt es heute eine russische Mehrheit. Dort beklagt man sich zwar gerne über Moskau, aber wirklich separatistische Bewegungen sind schwach.
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