Sie sind in St. Petersburg geboren, aber in Kiew aufgewachsen. Sie schreiben Russisch, aber Russland hat Ihre Bücher verboten. Hat man mit dieser Biografie nicht eine zerrissene Identität?
Ich bin kein Russe, und in Russland zu leben, wäre mir psychologisch unmöglich. Das letzte Mal war ich 2013 in Russland bei einem Kunstfestival in Perm, das hat man noch im selben Jahr verboten. Bei den Gesprächen mit russischen Intellektuellen hatte ich das seltsame Gefühl, mit Fremden zu reden, obwohl wir dieselbe Sprache sprachen. Sie benutzten dieselben Wörter, meinten aber etwas anderes.
Viele Russischsprachige in der Ukraine sprechen bewusst Ukrainisch, um ein Zeichen zu setzen. Russisch gilt als die Sprache des Feindes. Haben Sie überlegt, auch nur mehr auf Ukrainisch zu schreiben?
Ich habe ein Sachbuch, viele Artikel und ein paar Kinderbücher auf Ukrainisch geschrieben. Bei Veranstaltungen spreche ich schon lange Ukrainisch. Meine Romane schreibe ich aber nur auf Russisch. Das ist meine Muttersprache, und sie ist auch Muttersprache vieler Ukrainer. Die Hälfte unserer Soldaten an der Front spricht Russisch. Das zeigt auch die Absurdität des Krieges: Putin tötet zuerst die Menschen im Osten – und die sprechen alle Russisch.
Die Ukrainer waren immer streitfreudig, im Parlament flogen auch die Fäuste. Seit Kriegsbeginn hat man das Gefühl, das ganze Land sei einig. Stimmt das? Oder gibt es Risse in der Gesellschaft?
Natürlich gibt es Risse, aber nicht so viele wie früher. Die Parteien von Ex-Präsident Petro Poroschenko und Wolodimir Selenskij streiten noch immer, aber weniger heftig. Selenskij wird auch in den sozialen Netzwerken kritisiert. Er wird zu Hause behandelt wie ein normaler Politiker, nur im Westen sieht man ihn als Superstar.
Was ärgert die Menschen?
Es gibt offene Diskussionen über den Umgang mit Kollaborateuren, aber auch über die Zukunft der Ukraine wird debattiert. Viele Flüchtlinge werden ja nicht zurückkommen, vor allem viele Frauen und Kinder nicht, die im Westen sind. Die haben ihre Häuser und Wohnungen verloren, die Regierung wird für sie keine neuen bauen. Die Gesellschaft wird sich stark verändern – sie ist jetzt schon viel männlicher und militanter.
Sie sagten einmal, Sie hatten 2014 das erste Mal richtig Angst, als die Duma der russischen Armee Auslandseinsätze ermöglichte. Haben Sie mit der Invasion gerechnet?
Nein. Wir haben immer nur theoretisch darüber gesprochen, in der Realität hat sich das niemand vorgestellt.
Wie lange haben Sie gebraucht, um das zu realisieren? Konnten Sie schreiben?
Ich schreibe seit dem ersten Tag keine Literatur mehr, nur mehr Artikel. Um zu verstehen, was passiert ist, brauchte ich wenigstens eine Woche.
Wie konnten Sie sich aus der Schockstarre lösen?
Anfangs hatte ich sogar zweimal das Gefühl, als hätte ich meinen Humor verloren. Aber er kam wieder: Etwas lustig zu finden, ist ja eine gute Arznei in schwierigen Zeiten. Das hilft, stabil zu bleiben, keine Panik zu haben.
Auch von der Front gibt es unzählige Memes. Haben die Ukrainer ihren Humor schon immer als Waffe und Mittel zum Überleben eingesetzt?
Ja. In der klassischen russischen Literatur gibt es ja keinen Humor, Dostojewski ist nicht lustig. Erst Gogol – ein Ukrainer – hat den Humor in die russische Literatur gebracht. Wenn die Soldaten an der Frontlinie neue Witze posten, weiß man, dass alles einigermaßen okay ist.
Zu Kriegsbeginn sagten Sie, der Krieg sei erst vorbei, wenn Putin nicht mehr lebe. Glauben Sie das noch?
Nein. Wenn er tot ist, bleiben ja noch andere – Wagner-Chef Prigoschin, Tschetschenenführer Kadyrow, Generalstabschef Gerassimow und viele andere, die dieselbe Mentalität wie Putin haben. Und auch die junge Generation der russischen Politiker ist verrückt: Der Vizesprecher des Parlaments sagte erst kürzlich, am besten wäre es, wenn die Ukrainer wegen der Kälte aussterben – und der russische Hass auf die Ukraine sei heilig. Der Krieg wird nicht enden, wenn am Schlachtfeld nicht mehr gekämpft wird.
Woher kommt dieser Hass?
Dieser Krieg ist mehr als 300 Jahre alt. Auch für Putin ist es ein historischer Krieg gegen die ukrainische Identität und Kultur. Die Ukrainer wollten nie Russen sein, dennoch versuchte Russland die Ukrainer zu assimilieren. Zwischen 1720 und 1917 gab es mehr als 40 Gesetze, die die ukrainische Sprache verboten. In der Sowjetzeit wurde eine ganze Generation Schriftsteller, Dramatiker und Lyriker im Konzentrationslager erschossen. Jetzt führt Putin seinen Krieg auf drei Ebenen: Als Eroberungskrieg, weil er sein Ziel „Make Russia great again “ einlösen will, bevor er stirbt. Das geht nur, wenn er die ukrainische Identität zerstört – das ist die zweite Ebene. Und die dritte ist der Krieg des Kollektivs Putin gegen den kollektiven Westen und demokratische Werte.
Haben Sie manchmal Angst um Ihr eigenes Leben?
Nein, ich akzeptiere, dass momentan alles möglich ist. Mein Cousin, der in den 90er-Jahren als Geschäftsmann Bodyguards hatte, weil er bedroht wurde, sagte mir mal: Wenn jemand entscheidet, dich zu töten, dann ist das so. Du kannst nicht in Angst leben und dich andauernd verstecken. Das stimmt.
Wann werden Sie wieder Literatur schreiben können?
Ich habe es zweimal versucht, aber es hat nicht funktioniert. Vielleicht Anfang nächsten Jahres.
Sie glauben nicht, dass der Krieg dann vorbei sein wird?
Nein. Der Krieg hat noch sehr viel Energie, mindestens für zwei Jahre. Aber diese Energie haben wir Ukrainer auch.
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