In Selbsttäuschung gestolpert
Fünf Tage später war alles anders: Es rollten Panzer, es flogen Raketen. Und als das Ziel, die Ukraine in zwei Tagen zu erlegen, nicht gelang, begannen Massenmord, Vertreibung und der verheerendste Eroberungskrieg, den Europa seit einem Dreivierteljahrhundert erlebt hatte.
Aber hatte sich die zivilisierte Welt nicht schon einmal geirrt: als sie eine drohende Annexion der Krim nicht wahrhaben wollte? Oder Jahre zuvor, als sie Putins verbalen Furor gegen den Westen nicht hören wollte?
Die westliche Welt hat sich schon lange im Wohlgefühl eingerichtet, nach Ende des Kalten Krieges nicht nur auf der faktischen, sondern auch auf der moralischen Siegerseite zu stehen, Achilleus gleich unverwundbar. Selbst dort, wo Zeichen an der Wand anderes sagen, wünscht man sich einfach, dass nichts passiert. Der Wunsch ist zur Maxime geworden, die die Realität verwischt.
Der Westen ist gerade dabei, mit China in eine ähnliche Selbsttäuschung zu stolpern – man wünscht sich, die Chinesen würden Putin ein wenig zur Räson bringen (ein Irrglaube, auch wenn Pekings Zurückhaltung gegenüber Moskau Fakt ist), und man wünscht sich, der chinesische Drache würde sich nicht an Taiwan vergreifen.
In Österreich kennen wir die Selbsttäuschung auch: Man wünscht sich, die Neutralität bewahre uns für alle Zeiten vor Ungemach. Motto: Kopf einziehen, zur Not ist jemand da, der hilft, nicht wahr?
Vor einem Jahr ist die freie Welt unsanft aus ihrem Traum geweckt worden. Er hat sich als ihre Achillesferse entpuppt. Es spricht viel dafür, dass die Welt inzwischen so aus den Fugen geraten ist, dass sich die Blöcke so verschieben, dass der alte Zustand der vermeintlich ewigen Sicherheit nicht wiederherstellbar ist. Wir haben gelernt, mit viel Unbill und nun mit dem „Nichts wird mehr, wie es einmal war“ umzugehen. Wir werden das auch weiter tun, und die freie Welt wird bestehen. Bloß: Zu wünschen, dass nichts passiert, ist fürderhin kein guter Ratgeber.
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