Mit der Waffe im Gepäck und der Angst in den Augen
Eigentlich hat Wladim ja gerade laut gesagt, dass er überhaupt keine Angst habe, doch dann schluckt er das Ende des Satzes runter und bessert sich halblaut aus: „Na ja, so wie jeder andere auch.“ Seine Freundin hat sich in seinen Arm verkrallt, als könnte sie ihn festhalten, hier, vor einer der vielen baufälligen Barockkirchen in der Altstadt von Lemberg, durch die sich an diesem Nachmittag die nicht enden wollende Schlange aus ukrainischen Flüchtlingsautos durchquält. Die Kennzeichen weisen auf Kiew, Dnjepropetrowsk, Charkiw hin.
Genau dorthin freilich wollen Wladim und sein Freund Lwowa, gemeinsam mit drei bärtigen Engländern, die neben ihnen auf den Treppen vor der Kirche sitzen. Die ringen zwar nicht so mit ihrem Englisch wie die zwei Freunde aus Lemberg, sind aber trotzdem nicht so gesprächig und lachen nicht bereitwillig in eine Kamera. Kämpfen gehen, davon reden hier viele in Lemberg, der Quasi-Hauptstadt des ukrainischen Westens.
Hass auf Russen hat hier ohnehin Tradition
An vielen Straßenecken versammeln sich junge Männer aus der ganzen Region, in Trainingsanzügen oder schon in Militärjacke. Während sie auf ihren Transport warten, machen sie sich mit derben Scherzen und Kettenrauchen Mut, klopfen auch für den ausländischen Reporter ihre Sprüche über die Russen, die sich doch gefälligst f.... sollen. Ähnliches steht auch auf den Plakaten in den Nationalfarben blau-gelb entlang der großen Ausfallstraßen aus der Stadt.
Hier hat der Hass auf die Russen ohnehin Tradition, verehrt man jene, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den Wäldern saßen und noch Jahre gegen die Rote Armee kämpften. Dass manche von denen auch SS-Uniformen getragen hatten, Handlanger der Nazis wurden, schlachtet Putin jetzt als Argument für seinen unmenschlichen Angriffskrieg aus. „Nazis hat er uns hier genannt“, kann die Ärztin Viktoria ihre Fassungslosigkeit nicht verbergen: „Und dafür wirft er jetzt, 75 Jahre später, Bomben auf Zivilisten.“
Von den barocken Prunkbauten der polnischen Könige bis zu den historischen Fassaden entlang der Ringstraße: In Lemberg, heute Lviv, haben viele Epochen europäischer Geschichte bis heute unübersehbar ihre Spuren hinterlassen. Und es ist mitteleuropäische, nicht russische Geschichte, die dieses Zentrum der Westukraine geprägt hat. Einst Teil des Königreichs Polen, war es nicht nur Geburtsstadt, sondern auch Residenz von König Jan Sobieski, jenes Herrschers also, mit dessen Hilfe sich Wien 1683 von den Türken befreite. Fast 150 Jahre waren Lemberg und die Region Galizien Teil der Habsburgermonarchie. Als österreichisches Kronland wurde es nicht nur direkt von Wien aus regiert, sondern war auch eng verbunden mit der Hauptstadt. Eigentlich betrachteten die Kaiser in Wien diese östlichste Provinz des Reiches als rückschrittlich. Lange Zeit war es damit quasi eine Strafkolonie für unliebsam gewordene Beamte oder Offiziere. Doch mit der Entdeckung von Erdöl in Galizien kam der wirtschaftliche Aufschwung in das lange als „Sibirien“ verunglimpfte Kronland. Galizien wurde zum „Texas Österreichs“, und in Lemberg zog der Historismus ein. Vom Hauptbahnhof bis zur Oper und den Grande Hotels sowie den Palais der reich gewordenen Unternehmer der Region machten sich hier Architektur, Kultur und Lebensart im Stil von Wien breit.
Viktoria hat keine Zeit, um zu kämpfen. Sie muss sich ohnehin sieben Tage die Woche um jene Patienten kümmern, die jetzt aus allen Teilen des Landes hierher geflüchtet sind, mit all ihren Leiden. Diabetiker, also Zuckerkranke, die machen der Mutter von zwei Kindern jetzt am meisten zu schaffen: „Uns geht das Insulin aus, die kommen nämlich alle ohne ihre Medikamente hier an.“
Schießübungen draußen im Wald
Abends aber, nach dem Dienst im Spital, trifft sich Viktoria mit ein paar Bekannten in einem Park in der Stadt. Gemeinsam organisiert man Schießübungen draußen in den Wäldern am Stadtrand. „Freiwillige gibt es dafür genug“, berichtet sie stolz, „die Waffen gehen angeblich langsam aus.“
Auch wenn man 500 Kilometer von der Front entfernt ist, rüstet man sich in Lemberg für den Krieg. Vor jedem öffentlichen Gebäude sind Sandsäcke aufgetürmt, patrouillieren Wachposten der Armee. Auch an allen großen Straßen, die in die Stadt führen hat man Blockaden errichtet, manchmal auch nur aus Betonblöcken von einer nahe gelegenen Baustelle.
Auch in der Altstadt sind Bewaffnete unterwegs, reguläre Armee, aber auch offensichtlich rasch für die Milizen rekrutierte junge Männer. Nur das gelbe Plastikband auf dem Oberarm zeichnet sie als Kämpfer aus. Hier in Lemberg haben sie ihre alten Kalaschnikows meist nur lässig über die Schulter geworfen, trinken Kaffee bei den Ständen am Straßenrand und flirten mit den Mädchen.
Tarnnetze statt Bücher
Wer keine Waffe in die Hand nehmen kann, aber trotzdem in diesem Kampf helfen will, findet sich etwa in der Bibliothek am Rynek, dem prächtigen mittelalterlichen Rathausplatz in der Altstadt, ein. Die endlosen Bücherregale finden in diesen Tagen kaum Beachtung. Davor aber sitzen Menschen jeden Alters – von Studenten bis Pensionisten – im Kreis und knüpfen Tarnnetze aus grauen Stoffbahnen für Panzer und andere Fahrzeuge.
Anastasia hilft hier beim Organisieren, holt vor allem Flüchtlinge herein, die aus allen Teilen des Landes in Lemberg zusammenströmen. Hunderte Kilometer von der Front entfernt und von den Bomben der Russen fühlen sie sich in Lemberg einigermaßen sicher.
Flüchtlinge prägen das Bild der Stadt
Die junge Buchautorin Anastasia hat vor ein paar Wochen hier noch aus ihrem jüngsten Roman vorgetragen. Jetzt weiß sie für jeden, der es bis zur Bibliothek geschafft hat, einen Rat: „Die bekommen bei uns alle Informationen – wo es Essen gibt, wo einen Schlafplatz... und dann kommen sie wieder, weil sie helfen wollen.“
Die Flüchtlinge prägen das Bild der Touristenmetropole in diesen Kriegstagen. Wo sonst Polen oder Italiener durch die Straßen schlendern, schleifen jetzt die Vertriebenen ihre Koffer über das alte Kopfsteinpflaster. Um die schicken Cafés und die Souvenirboutiquen kümmern sich diese „Besucher“ kaum. Den müden Blick auf ihr Handy oder auf irgendeinen Zettel geheftet, stapfen sie übernächtig durch die Straßen auf der Suche nach einer Adresse.
Ein auch noch so entfernter Verwandter, ein Untermietzimmer, von irgendwem weitergereicht, der bereits weiter in den Westen gefahren ist – das sind ihre Ziele. Jedes Haus, jede Wohnung in Lemberg ist übervoll, die Hotelzimmer, wenn sie sich jemand leisten kann, werden längst unter der Hand zu Wucherpreisen gehandelt. Anastasia etwa hat ihren Verleger aus Charkiw bei sich zu Hause einquartiert: „Dafür veröffentlicht er von jetzt an sogar Witze von mir“, scherzt sie.
Nadelöhr Bahnhof
Das Nadelöhr für die Weiterreise in den Westen ist der Bahnhof. Hier vor der eleganten historistischen Fassade aus der Zeit der k.&k.-Monarchie drängen sich Tausende frierend um die Zelte, in denen Tee, Babywindeln und Informationen für die Weiterreise angeboten werden. Auf Gleis fünf laufen die Züge ein, auf die hier alle warten.
Przemysl in Polen steht auf der Anzeige. Abfahrtszeit steht keine daneben. Die Menschen in der Halle stehen geduldig in der Schlange, warten auf Anweisungen von Ordnern, die genauso übermüdet und nervös sind wie sie. Manchmal schreit einer irgendwelche Anordnungen in die Menge, versucht sich in dem Gewirr aus weinenden Babys, Handylautsprechern, die gegen schlechte Verbindungen ankämpfen, und Hundegebell durchzusetzen.
Was sie jetzt mit ihrem Hund machen soll auf der Flucht in einem überfüllten Zugabteil? Die Frage kann die alte Frau nur mit einem traurigen Grinsen und einer kurzen Bemerkung beantworten, die ihre Tochter übersetzt: „War ja keiner mehr da, um ihn zu füttern.“
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