KURIER-Reporter zurück aus Charkiw: Über Leben angesichts des Todes

KURIER-Reporter zurück aus Charkiw: Über Leben  angesichts des Todes
Krieg in der Ukraine. Die Zerstörung und das Leid machen sprachlos und betroffen – die ganz persönlichen Erfahrungen der zwei KURIER-Reporter, die den Raketenangriffen entfliehen konnten.

„Alle sind am Leben, das Hotel steht noch. Ich bringe meine Mutter an einen sicheren Ort.“ Das schreibt mir am Donnerstag Olek, ein junger Mann aus dem Hotel in Charkiw, das in den vergangenen Tagen mehr als nur Jürgs und meine Herberge war. War das russische Bombardement auf die Stadt wieder einmal besonders heftig, fanden wir in dessen Keller Unterschlupf, gemeinsam mit vielen anderen. Und sie alle sind am Leben. Ich atme auf.

Sorge und Erleichterung

Was wird aus Pavel? Was wird aus dem zweijährigen Buben, der gerade erst gehen gelernt hat, als Wladimir Putin beschloss, die Geschichte der Welt zu ändern und seine Truppen in die Ukraine schickte? Wird er den Bomben- und Raketenhageln, den Angriffen auf zivile Gebäude (was für ein beliebiger Ausdruck – in jedem Haus lebt eine Familie, leben Menschen mit Träumen, Ideen, Vorstellungen) entgehen? Und warum fahre ich gerade aus dieser Stadt heraus? Das dachte ich mir am Dienstag, während Jürg und ich Charkiw verließen. Als wir den letzten Checkpoint passierten, machte sich in mir Erleichterung breit. Ich war draußen. Ich verließ einen Ort, in dem ich einige Male mein Ende hätte finden können. Wofür?

Irrtum

Am Dienstag, dem 22. Februar, bekam ich das Okay meiner Chefredaktion, in die Ukraine zu fahren. Wladimir Putin hatte seine Rede gehalten, hatte seine Interpretation der Geschichte am Abend zuvor der Weltöffentlichkeit offenbart. Ich hatte es als Alarmsignal aufgenommen, dachte mir: Wenn er schon so spricht, dann wird er nicht nur die Separatistengebiete anerkennen, sondern auch die gesamte Oblaste. Das war Grund genug für mich, dorthin zu fahren. Mit einer groß angelegten Invasion hätte ich nicht gerechnet.

Dienstagabend fuhren KURIER-Fotograf Jürg Christandl und ich mit unserem treuen VW Polo gen Kiew. Nicht ohne Speck, einen gehörigen Vorrat an Zigaretten, warme Wäsche, aufgeladene Reserveakkus.

Was wir bald herausfinden sollten: Reserverad befand sich keines im Auto. 200 Kilometer vor Kiew geschah das Unvermeidbare und eines der Millionen Schlaglöcher schaffte es, von uns übersehen zu werden. Reifenplatzer.

Die Flüche, die wir ausstießen, als wir sahen, dass der Reservereifen fehlt, seien dem Leser an dieser Stelle erspart. Jedoch befand sich ein Reparaturkit im Kofferraum, und mit Reifenfüllung und einer elektrischen Pumpe schafften wir es, den Reifen zumindest für drei Minuten Fahrzeit zu füllen. Dies wiederholten wir, bis wir zu einer Reifenwerkstatt gelangten, deren wortkarger Mechaniker unser Auto in Windeseile wieder fahrtüchtig machte.

Wir erreichten Kiew nach 18 Stunden. Während der Fahrt unterhielten wir uns über mögliche Szenarien, hielten einen russischen Angriff auf die ukrainische Hauptstadt für ausgeschlossen. Dort angekommen, fuhren wir zuallererst zum Verteidigungsministerium, um eine Akkreditierung zu bekommen – wohlwissend, dass es dafür Tage, wenn nicht Wochen braucht.

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Doch dafür gab es von ukrainischer Seite keine Ressourcen: Zahlreiche Männer – vom 17- bis zum 55-Jährigen – meldeten sich freiwillig zu den ukrainischen Streitkräften. Betagte Herren, die einander die Hand schüttelten, junge Männer, die sich tränenreich von ihren Frauen und Freundinnen verabschiedeten. Wer sollte da noch Zeit für einen Fotografen und einen Journalisten aus Austrija haben?

Wir sahen uns die Landkarte an, beschlossen, am nächsten Tag nach Charkiw zu fahren und dann die Situation zu evaluieren. Unser Ziel war Kramatorsk – eine Stadt im Oblast Donezk. Aber diese Stadt zu erreichen, wäre nach der Fahrt erst am Freitag möglich gewesen.

Schock

Wir wachten auf – und konnten unseren Augen nicht trauen: In allen ukrainischen Städten seien Militärbasen beschossen worden, Putin habe eine Großoffensive entfesselt. Auf nach Charkiw.

Schon auf dem mehr als 500 Kilometer langen Weg kamen uns Abertausende Fahrzeuge in der entgegengesetzten Richtung entgegen. Menschen, die gleich flohen, ehe ihre Stadt zum Trümmerhaufen wurde. Als wir dort ankamen, schien Charkiw noch nicht verlassen. Menschen flanierten das Ufer entlang, saßen auf Parkbänken. Daneben fuhren Panzerkolonnen vorbei. Wir checkten in einem Hotel ein, das etwas abgelegen vom Zentrum liegt – sicher ist sicher.

Spione?

Wir erfuhren, dass etwa 40 Kilometer weiter eine russische Rakete eingeschlagen habe – und fuhren in den Ort Tschukujiw, fanden nach etwas Suchen den zerbombten Wohnblock, berichteten in einer Reportage darüber. Wir fuhren zurück – und erlebten wenig später, was es heißt, in einem Kriegsgebiet zu sein: Wir wollten uns einen Überblick über das Stadtzentrum verschaffen, fuhren mehrere Gassen aus. Plötzlich ertönte hinter uns eine Sirene. Ein Polizeiauto war beinahe auf uns aufgefahren, aus dem Lautsprecher schrie uns eine Stimme auf Ukrainisch an.

Wir hielten an, stiegen aus. Und sahen in die Pistolenläufe von Charkiwer Polizisten. Nahmen die Hände hoch. Doch das reichte nicht. Sie schrien weiter, kamen näher, die Pistole im Anschlag. Instinktiv legte ich mich auf den Boden, streckte die Hände von mir. Auch Jürg tat das, rief „Journalist“, „Austria“. Die Polizisten hielten inne, fragten uns nach unseren Pässen. Ich griff vorsichtig nach meiner Innentasche, reichte dem erstbesten Beamten einen Reisepass und Presseausweis. Wir durften aufstehen, sie entschuldigten sich, hatten uns eben verdächtigt, russische Spione zu sein.

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Dank Jürgs Schmäh (ein Exil-Tiroler im Burgenland hat viel davon), lockerte sich die Stimmung bald auf, und wir sollten nie mehr Probleme mit der Polizei in Charkiw haben. Die Männer entschuldigten sich in aller Form bei uns.

Widerstand

Zu diesem Zeitpunkt war mein Gefühl, dass die Ukraine bald fallen würde. Mehr oder minder widerstandslos. Warum sollte eine Stadt, in der vornehmlich Russisch gesprochen wird, in der Menschen von der „unfähigen Regierung“ erzählen, erbitterten Widerstand leisten?

Ich hatte mich getäuscht. Ist die Familie in Gefahr, beschützt man sie. Wird die eigene Stadt bedroht, bekämpft man jene, die sie bedrohen. Und schlagen Raketen in den Wohnvierteln der eigenen Stadt ein, kämpft man für diese Stadt. Bedroht dann noch eine Streitmacht das gesamte Land, in dem man lebt, steht man vor der Wahl: Fliehen oder kämpfen. Ein großer Teil der männlichen Charkiwer Bevölkerung hat sich für das Kämpfen entschieden.

Eskalation

Nicht nur Männer, die sich als Soldaten registrierten. Plötzlich nähten Frauen in Goa-Hosen Winter-Tarnanzüge für die Soldaten, mixten junge Männer mit Bob-Marley-Kappen und rot karierten Jacken Molotowcocktails, brachten sich IT-Fachkräfte die Grundzüge der Gefechtstechnik bei. Der Widerstand wuchs, die belagerte Stadt warf einen russischen Angriff mit Bodentruppen zurück. Doch damit wuchs auch die Intensität der russischen Angriffe.

Waren es erst Bombardements auf vorwiegend militärische Einrichtungen, feuerten die Streitkräfte Putins bald nicht nur mit Mehrfachraketenwerfern, sondern auch mit Marschflugkörpern und mit ziemlicher Sicherheit mit Streubomben, auf zivile Gebiete. Meist stundenlang.

Die Wände wackelten, Menschen flohen in die U-Bahnstationen. Oder eben in unser Hotel, in dem der Keller Schutz und Essen versprach. Essen, für das andere stundenlang anstehen mussten, während die Bomben auf die Stadt niedergingen.

Aus der gesamten Nachbarschaft kamen die Menschen, suchten Schutz, bekamen sofort Kaffee, Nahrung, Unterschlupf. Selbst als die Versorgungslage immer enger wurde, bemühten sich alle, einen Schein der Normalität zu wahren. Hinter abgedunkelten Fenstern servierten die Mitarbeiter ihren Gästen liebevoll zubereitete Speisen im Kerzenschein. Auch wenn das Fleisch flachsiger und weniger wurde – sich an ihre Gepflogenheiten der Gastfreundschaft zu halten, gab ihnen Halt.

Heulten die Alarmsirenen, versteckten sie sich im Hotelkeller: Bei Mehrfachraketenbeschuss. Dann bei Bombardements auf zivile Einrichtungen. Und dann, als plötzlich die geächteten Clusterbomben detonierten und Iskander-Raketen auf dem Hauptplatz der Stadt einschlugen – und eine hohe Zahl ziviler Todesopfer forderten.

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Tauschhandel

Inmitten dieses Chaos wuchs Pavel auf. Er konnte gerade erst gehen. Wenn ich im Keller einen Artikel über die jeweilige Situation verfasste, kam es oft vor, dass wir einen Tauschhandel schlossen: Meine Computermaus gegen seine erbeutete Billardkugel. Meinen klimpernden Schlüssel gegen ein herzhaftes Lächeln. Doch bei all dem Tauschgeschäft gab es einen Unterschied: Ich hatte die Möglichkeit, die Stadt zu verlassen, als die russische Armee ihre Angriffe auf zivile Einrichtungen verstärkte, er nicht.

Es kam in mir die Frage auf: Hat unsere Reise irgendeinen Sinn ergeben?

Eine Frage, die man sich oft stellt, kehrt man aus Kriegs- und Krisengebieten zurück. Man kommt heim, umarmt seine Lieben, freut sich darauf, sich „einmal auszuruhen“, während die, die zurückgeblieben sind, weitere Bomben, Gefechte, Entbehrungen ertragen müssen, täglich um ihr Leben kämpfen. War es das wert, dass sich gleichermaßen Freundin, Familie, Freunde Tag für Tag sorgen mussten?

Propagandakrieg

Ja. Nie war es leichter, Informationen über einen Krieg zu bekommen als bei diesem. Nie war es schwieriger, die Echtheit dieser Informationen zu überprüfen.

Beide Seiten, sowohl Russland als auch die Ukraine, kämpfen auch an der Propaganda-Front, die sich vor allem auf Sozialen Medien abspielt. Ein Video, in dem – angeblich in Kiew – zahlreiche Molotowcocktails auf einen russischen Panzer fliegen, war der Hit unter ukrainischen Soldaten. Es gab ihnen Zuversicht. Nur ist dieses Video viel älter, hatte zu diesem Zeitpunkt nichts mit der Situation zu tun. Ein Trugschluss. Es ist eines von zahlreichen Beispielen eines Informationskampfes, der seit jeher in Kriegen geführt wird.

Gleichwohl häuften sich auf der anderen Seite Berichte, dass die Russen in Charkiw mit Freuden begrüßt würden. Hatten Jürg und ich zu Beginn bei einigen Menschen eine gewisse Gleichgültigkeit, jedenfalls keine Euphorie gegenüber einer russischen Besatzung wahrgenommen, schlug das nach den ersten Bomben und Todesopfern in Hass um – zumindest aus der Sicht all unserer Gesprächspartner.

Wir legten Wert darauf, über das zu berichten, was wir sahen. Den Lesern zu vermitteln, wie es den Menschen in der Stadt geht, wie sie mit der Situation umgehen, worauf sie hoffen. Darüber zu berichten, wie sich eine ganze Stadt im Krieg innerhalb weniger Tage verändert. Diese Veränderung geht schnell – und wird von Tag zu Tag dramatischer. Und man fragt sich: Hätten wir nicht noch bleiben sollen? Eine Frage, die vom Geräusch der Steinlawine von den Herzen meiner Lieben übertönt wird.

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