Immer wieder kracht es: Schnellfeuer aus halb automatischen Waffen mischt sich unter das Donnern der Artillerie. Kommen die Einschläge näher, zittern die Wände. Doch Charkiw will sich verteidigen: An fast jeder Straßenecke im Zentrum stand Sonntagfrüh ein ukrainischer Soldat, auf der Schulter sein RPG – eine Panzerabwehrwaffe. An den Fenstern des Rathauses bezogen die Soldaten ihre Stellung, Straßensperren wurden errichtet. Für Zivilisten höchste Zeit, sich einen sicheren Ort zu suchen.
Ein solcher Ort ist der Keller eines Hotels, das etwas vom Zentrum entfernt und am Fuße eines Hügels liegt. In Friedenszeiten war dieser Raum ein schicker Salon: Braune Chesterfield-Sofas, Esstische, ein künstliches Kaminfeuer, das beruhigend prasselt, ein gewaltiger Billardtisch. Jetzt dient er als Ablage für Decken. Rund um den Tisch liegen Matratzen, auf denen kleine Kinder in Decken gehüllt schlafen. Nur der kleine Pavel wuselt herum, von seinem Vater an den Händen gehalten. Gerade erst hat er gelernt, selbstständig zu gehen, stolpert aber noch oft. "Sicher ist sicher", sagt sein Vater, der im Hotel arbeitet – und dortbleiben wird.
Je nachdem, wie stark der Beschuss auf Charkiw ist, halten sich hier zehn bis zwanzig Menschen auf, nehmen Platz auf den Stühlen, die der Hotelbesitzer an die Wand gestellt hat. Ist es ruhig, vertreten sie sich die Beine in den Hotelgängen – das Foyer ist jedoch eine Sperrzone. Draußen wird gekämpft, es herrscht eine strikte Ausgangssperre.
Am Kamin sitzt Liana, telefoniert mit ihrer Tochter, die in Israel wohnt. Katia streckt sich inzwischen auf dem Sofa, gähnt: "Ich sollte Angst haben, aber es ist so angenehm hier", sagt die 16-Jährige. "Meine Mutter und meine Tante müssen Medikamente nehmen, dass sie es aushalten, aber vielleicht realisiere ich die Situation einfach nicht ganz. Wahrscheinlich besser so." Gäste sind – bis auf den KURIER – keine mehr im Hotel. Doch Freunde und Verwandte suchen hier Unterschlupf und harren der Dinge.
"Wir haben die Russen zurückgedrängt, Charkiw ist wieder unter ukrainischer Kontrolle", verkündet der Gouverneur des Bezirks gegen Mittag. Draußen sind Schüsse und Detonationen zu hören. Wenig später wird es tatsächlich vorübergehend ruhig, bis nur kurz darauf wieder Artilleriedonner zu hören ist. Mit jeder erfolgreichen Abwehr der Russen nehmen diese Charkiw stärker unter Feuer. "Das Verrückte ist ja, dass sich diese Soldaten erwartet haben, dass wir sie als Befreier willkommen heißen würden", sagt Liana. "Irgendwann sollte ihnen klar werden, dass sie sich dabei geirrt haben."
Kommentare