Zu essen oder zu trinken hat Tania nichts mitgenommen, zu heftig war der Schock, um noch an etwas Anderes als Flucht in den U-Bahn-Bunker zu denken. „Ich will flüchten, aber wohin? Und wie? Und außerdem ist doch meine Mutter hier in Charkiw“, sagt sie mit bebender Stimme. Später wird sie den Benzintank ihres Autos auffüllen – und weiterhin unschlüssig bleiben. Hin und hergerissen zwischen der Angst vor den Raketen der russischen Armee und der Angst vor der Fahrt ins Ungewisse, dem Zurücklassen ihres bisherigen Lebens.
Abertausende Menschen haben Charkiw mittlerweile verlassen, nehmen die etwa 600 Kilometer lange Strecke nach Kiew und dann weiter in den Westen auf sich. Manche mit Autos: Freunden, die zurückgeblieben sind, berichten sie von Staus und langen Wartezeiten. Und auch die Neuigkeiten aus der Hauptstadt sind schlecht. Dazu kommt die Angst, dass sich die heftigen Kämpfe auf die Straßen verlegen könnten.
Andere verlassen sich auf den Zug, der von Charkiw bis Lwiw in der Westukraine fährt. Szenenwechsel auf den Hauptbahnhof: Es sind vor allem Studenten aus dem Ausland, die seit Stunden am Bahnsteig warten. In regelmäßigen Abständen ertönt aus dem Lautsprecher: „Der Zug verspätet sich auf unbestimmte Zeit.“
Hunderte stehen auf dem Bahnsteig, darunter auch Diana und Denis, ein junges Paar. „Wir wollen irgendwie nach Westen, haben dort Verwandte“, sagen sie. Aus Dianas Jacke lugt eine graue Katze hervor, Denis streichelt sie sanft. „Ich war immer ein Hundemensch, bis ich meine Freundin kennengelernt habe“, sagt er – froh, über ein anderes Thema sprechen zu können. Viel Gepäck haben sie nicht dabei, auch finanziell sind die beiden schlecht ausgestattet: „Wir haben 32 Dollar – Geld können wir hier keines mehr abheben“, sagt Denis.
Zurück im U-Bahnschacht: Veronika will bleiben. Die 24 Jahre alte Englischlehrerin reibt sich den Schlaf aus den Augen. Zuvor hat sie auf einer lachsrosa Decke an der Wand geschlafen. „Mir ist die geopolitische Tragweite einer NATO-Intervention bewusst, aber dennoch rege ich mich auf. Es macht mich wütend, dass die ganze Welt ihre Solidarität bekundet und nichts unternimmt. Dass wir Russland jetzt so ausgeliefert werden, macht mich traurig und wütend“, sagt sie und atmet tief ein.
Kaum ein Bankomat spuckt noch Bargeld aus. Wer sein Auto volltanken möchte, muss lange suchen. Die meisten Tankstellen haben geschlossen. Im Bezirkskrankenhaus von Charkiw will man keine Auskunft geben: „Wir sind im Krieg, können keine Journalisten hineinlassen. Was ich Ihnen sagen kann ist, dass wir nach den gestrigen Einschlägen viel mehr Patienten haben, die wir aber versorgen können“, sagt ein Arzt. Die Lebensmittel werden allerdings langsam knapp.
Pavel steht mit seinem Sohn vor einem Supermarkt, hinter ihnen bildet sich eine lange Schlange. Anstellen wollen sie sich noch nicht: „Es wird wohl eine Stunde oder zwei dauern, bis wir Brot und andere Dinge bekommen“, sagt er, während immer mehr Menschen kommen, die Schlange immer länger wird.
„Wir haben noch genug zu essen, aber ich habe fünf Kinder daheim – da muss man vorsorgen. Wir haben die ganze Wohnung umgestellt, die Betten zu den Wänden gerückt, sodass wir im Fall einer Detonation halbwegs sicher sind“, sagt er.
Ob die Stadt bald fällt? „Nein. Wir stehen besser da als Kiew, unsere Truppen haben die Russen an den Außengrenzen der Stadt immer zurückgeschlagen.“ In der Ferne donnert die Artillerie. Pavel horcht: „Das sind Minus. Bedeutet, es sind unsere Geschütze, die gegen die Russen gefeuert werden. Ich bringe mir gerade die Militärsprache bei.“
Ob auch er zu kämpfen bereit ist? „Für mich alleine wäre es leicht. Aber ich bin der Vater von fünf Kindern, meine Frau streitet mit mir deswegen. Wer soll die Familie versorgen, für sie da sein? Aber wenn die Situation schlimmer wird, werde ich kämpfen“, sagt er. „Eigentlich bin ich IT-Techniker, hatte mit Krieg nicht viel zu tun. Jetzt bereite ich mich auf den Krieg vor, den dieser Dämon Putin vom Zaun gebrochen hat.“
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