Was wird aus der Ukraine? Die Szenarien der Experten
Ob in den Kommandozentralen westlicher Streitkräfte, oder in den Regierungssitzen zwischen Washington und Berlin: Mit einem Krieg diesen Ausmaßes und dieser Brutalität hatte kaum jemand gerechnet. Entsprechend unsicher ist man sich über den möglichen Ausgang. In renommierten US-Think-Tanks wie dem Atlantik Council entwirft man daher Szenarien für die Zukunft. Der KURIER liefert einen Überblick.
1: Eine Niederlage und die Krim
Die unerwartet hohen Verluste der russischen Armee und der stockende Vormarsch bringen Putin auch zu Hause unter Druck. Moskau schwenkt um und beginnt ernsthafte Friedensverhandlungen zu führen. Zuletzt bleibt Putin nach seinem völkerrechtswidrigen Überfall mit dem übrig, was bereits davor de facto ihm gehörte: Die Krim und die beiden Separatistengebiete im äußersten Osten der Ukraine. Eine formale Anerkennung durch den Westen bleibt dennoch aus. Die Verluste, die enormen Kriegskosten und die eisenharten Sanktionen gegen Russland, stacheln eine Protestbewegung im Land an, die sich auch mit der bisher schon demonstrierten Gewalt nicht mehr unterdrücken lässt. Putin gerät in die Defensive und muss früher oder später die Macht abgeben. Russland schlittert in eine ungewisse und instabile Zukunft.
2: Bürgerkrieg ohne Ende
Die von der ukrainischen Regierung seit Tagen vorangetriebene Bewaffnung der Bevölkerung und der Zustrom ausländischer Kämpfer zeigt Wirkung: Russlands Angriff bleibt stecken. Die Armee wird in Städten wie Kiew und Charkiw in einen nicht enden wollenden und verlustreichen Häuserkampf verwickelt. Ein Krieg, der – nach Meinung aller Experten – nicht rasch zu gewinnen ist. Auch wenn sich die russischen Streitkräfte dort durchsetzen, folgt ein Guerillakrieg vor allem im Westen des riesigen Landes. Den hat die Ukraine ja bereits nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg erlebt. Das Land verwandelt sich in einen „failed state“ vor den Toren von EU und NATO, ein ständig schwelender Konfliktherd. Die NATO muss mit einer dauerhaften Verstärkung ihrer Truppen im Osten Europas reagieren.
3: Eine Marionette Moskaus in Kiew
Es ist der Zustand, den Putin in Weißrussland mit Präsident Lukaschenko hergestellt hat, und den er in der Ukraine inzwischen seit fast zwei Jahrzehnten herzustellen versucht: Eine Regierung am Gängelband Moskaus. Schon 2004 hatte man versucht, den Russland-treuen Viktor Janukowitsch durchzusetzen und damit die Orange Revolution ausgelöst. 2010 schaffte es Janukowitsch dann, dank des Versagens der korrupten pro-westlichen Führung. 2014 aber wurde er gestürzt. Seit damals versucht Putin, die Ukraine wieder unter Kontrolle zu bekommen, da er sie ja als eigentlich russisches Territorium betrachtet. Eine Russifizierung, wie sie ja in der Ukraine schon unter dem Zaren und in der Sowjetunion betrieben wurde, wäre die Folge. Dazu aber braucht Wladimir Putin erst einen militärischen Sieg in diesem Krieg.
4: Der große Krieg mit der NATO
Es wird zwar bisher von allen Experten als unwahrscheinlich abgetan, doch der Krieg lässt die Gefahr auf eine Konfrontation Russlands mit der NATO bedenklich anwachsen. Geschoße oder Raketen der russischen Armee könnten irrtümlich in einem NATO-Staat, etwa im Baltikum, einschlagen. Falls das Blutvergießen anhält und die zivilen Opfer immer mehr werden, könnte die NATO sich zuletzt doch zu einer Flugverbotszone über der Ukraine durchringen. Putin könnte, beflügelt, durch einen zuletzt doch klaren Sieg, das Wagnis eingehen, auf NATO-Territorium einzugreifen. Die plausibelsten Ziele: Die sogenannte „Suwalki-Lücke“, die Weißrussland von der russischen Exklave Kaliningrad trennt, oder mehrheitlich russische Gebiete in den Baltischen Republiken. Die NATO wäre verpflichtet, den Bündnisfall auszurufen
Kommentare