Auf der Flucht: "Mama, in welchem Land sind wir jetzt?"

Eine Frau und ein Kind schlafen auf einem Bus oder Zug, während eine weitere Frau daneben sitzt.
Täglich fahren Busse von Wien bis an die ukrainische Grenze, damit Flüchtende an ein sicheres Ziel kommen.

"Mama, in welchem Land sind wir jetzt?" Zoia Shyrakova antwortet ihrem elfjährigen Sohn: "Wir sind in Österreich, dem Land von Mozart".

Das erste Mal kommt der Frau ein Lächeln über die Lippen. Endlich ist Erleichterung zu spüren bei ihren fünf Kindern. Der Weg nach Österreich war lange, viel zu lange. Fünf Tage waren sie unterwegs auf der Flucht aus ihrer Heimat, nahe der Stadt Mykolajiw im Süden der Ukraine. Geflohen sind sie vor Bomben und Straßenkämpfen, jetzt befinden sie sich in einem extravaganten Airbnb-Apartment, mitten im 3. Bezirk in Wien.

Shyrakova und ihre Kinder gehören zu den 67.000 Menschen auf der Flucht, die ihr Land über die slowakische Grenze verlassen haben. Laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sind innerhalb einer Woche eine Million Menschen aus der Ukraine geflohen.

Shyrakova schließt die Türe zu ihrer neuen Bleibe auf Zeit. Jetzt können sie endlich schlafen.

Eine Gruppe von Menschen sitzt in einem Raum mit großen Fenstern.

Eine Familie sitzt inmitten von Gepäck in einem eleganten Raum.

Drei Personen betrachten eine Sammlung von kleinen Figuren auf einem Tisch, die sich in einem Spiegel spiegeln.

Endlich angekommen

Familie Shyrakova betrachtet die Statuen in ihrer Wohnung auf Zeit.

Eine junge Frau mit roten Haaren umarmt eine andere Person in einem Wohnzimmer.

Airbnb für Flüchtlinge

Nur 24 Stunden zuvor erhält der Busfahrer Slavomir Segedy einen Auftrag. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine hat das Busunternehmen Blagus eine neue Kundin: Martina Kojic. Die Fashion-Managerin aus London chartert über ihre karitative Frauenplattform (mademoisellemartina.org) Autobusse. Sie lässt (vor allem) Frauen und Kinder von der rumänischen, der polnischen und der slowakischen Grenze abholen und nach Wien bringen. Mehrere Tausende Euro zahlt sie für den Bustransfer pro Tag.

Eine Frau sitzt in einem Sessel und hält ein Smartphone in der Hand.

"Schwangere Frauen, Kinder und Babys. Man muss alle retten. Wie kann man das zulassen?"

von Martina Kojic (28)

Frauenplattform-Gründerin

Bis jetzt hat sie alles selbst finanziert: "Wir brauchen finanzielle Unterstützung, mehr Wohnungen, auch Airbnb soll den Flüchtlingen ihre Unterkünfte gratis anbieten", sagt sie. Über Instagram koordiniert Kojic die Abholungen und Unterkünfte, die ihr Menschen zur Verfügung stellen.

Täglich schreiben ihr Hunderte verzweifelte Frauen an den Grenzen. "Schwangere Frauen, Frauen mit Babys und Kindern mit Behinderungen." Als Kind erlebte Kojic in Kroatien selbst den Krieg. "Da kann ich nicht wegsehen."

Nach fünfstündiger Fahrt erreicht der leere Bus die slowakisch-ukrainische Grenze bei Vyšné Nemecké. Die Busfahrer haben eine Liste mit den Namen von 32 Frauen, die abgeholt werden sollen, per WhatsApp erhalten.

Ein Schild mit der Aufschrift „Clothes Free“ vor einem Zelt mit Kleiderspenden.

Zelte

Für die Menschen vor Ort gibt es Zelte zum Übernachten oder Aufwärmen.

Ein Schild bietet kostenlose Lebensmittel, Kleidung und Gesundheitsversorgung an.

Ein Dorf an der Grenze

Essen, Kleidung, Schlafplätze: An der slowakisch-ukrainischen Grenze hat sich ein riesiges Dorf entwickelt.

Menschen gehen nachts an einer Absperrung vorbei.

Baby im Arm

Soldaten tragen auch die Kinder der ukrainischen Frauen.

Eine Frau hält eine Kiste mit Suppe vor einem Stand der Malteser Hilfe Slowakei.

Linsensuppe

Die 22-jährige Daniela Baganich kommt aus der Ukraine und versorgt  Menschen an der Grenze mit Linsensuppe.

Menschen überqueren eine belebte Grenze bei Nacht, einige tragen Taschen.

Soldaten tragen Taschen

Die slowakischen Soldaten tragen die Taschen der Frauen, die von der ukrainischen Seite kommen. 

Zwei junge Frauen mit Warnwesten an einem Grenzübergang bei Nacht.

Daniela Kopcik und Oleksandra Pushkina

Zwei Studentinnen unterstützen an der Grenze die Menschen vor Ort.

Eine Kleiderstange im Freien ist voll mit Winterkleidung.

Kleidung

Ein Priester hat Sachspenden für die Menschen vor Ort gesammelt und aufbereitet.

Helfer des Malteser Hilfsdienstes koordinieren Hilfsmaßnahmen mit einer Liste und einem Smartphone.

Unterstützung der Malteser

Bei der Koordination unterstützen auch die Malteser oder das Rote Kreuz.

Zwei Männer halten eine indische Flagge im Freien.

Indische Studenten

Caray und Sayanden bringen indische Studenten aus dem Land: Bereits 800 wurden bereits ausgeflogen.

Zwei Sanitäter in roter Uniform gehen in der Nacht an einem belebten Ort entlang.

Das Dorf an der Grenze

An der Grenze sind zuerst alle überwältigt. Es ist dunkel – und zugleich taghell beleuchtet. TV-Journalisten berichten live, während im Hintergrund Menschen mit Plastiksäcken die Grenze überqueren. Slowakische Soldaten begleiten die Frauen, tragen ihre Kinder und die Taschen. Viele sind in Decken gehüllt, die Kälte macht allen zu schaffen.

Auf der slowakischen Seite wird Nächstenliebe gelebt, während auf der ukrainischen Seite gewartet und gedrängt wird. "Wie lange ist die Schlange? Meine Freundin hat ein Kleinkind, sie ist zu Fuß unterwegs", erkundigt sich ein Mann aus Paris, der bis nach Bratislava geflogen ist und jetzt mit seinem Taxi-Fahrer auf die Ankunft der Geliebten wartet.

Die Grenzstelle ist zu einem regelrechten Dorf angewachsen. Für jene, die nicht direkt weiterreisen können, gibt es Zelte zum Aufwärmen und Übernachten. Kinderwagen stehen hier zur freien Entnahme. Es gibt Hygieneartikel, Lebensmittel, Schuhe in allen Größen, Kleidung, Windeln. "Jeden Tag bringen Menschen Spenden, das organisiert ein Priester", sagt ein Helfer.

Die Malteser und das Rote Kreuz sind vor Ort. Sie organisieren Unterkünfte und Mitfahrten. "Wer fährt nach Bratislava? Wer nach Berlin? Wer nach Budapest? Wo gibt es noch Plätze?", wird herumgefragt – auf Russisch, Ukrainisch, Slowakisch und Englisch. Aber auch Helfer aus Deutschland sind hier, sie bieten einen Fahrservice nach München an.

Doch nicht für alle geht es nach Westen – manche müssen in die Gegenrichtung. Viele junge Ukrainer, die in der Slowakei leben, sollen nun in den Krieg ziehen.

Mehrere Personen sitzen in einem Bus, einige schlafen oder ruhen sich aus.

Eine Katze liegt neben einer Person, die ein Handy hält.

Ein Kind schläft, während eine Person es im Sitzen hält.

Menschen auf der Flucht

Die Frauen, die auf der Liste der Busfahrer stehen, zu finden, ist in all dem Tumult schwierig. Stunden vergehen. Andere Menschen versuchen ihr Glück und wollen einsteigen. "Die Plätze sind reserviert", argumentieren die Busfahrer. Ein Mann muss von der Polizei aus dem Bus gebracht werden.

Drei Stunden später fährt der Bus los: Eine Mutter mit drei Kindern hat es nicht geschafft. Die Bestätigung der Behinderung ihres Sohnes, damit er nicht kämpfen müsse, wurde nicht akzeptiert.

Zwei gehörlose junge Männer mit ihren Freundinnen aus Kiew konnten hingegen über die Grenze. Sie müssen nicht an die Front – und sitzen mit ihrer Katze Bars im Bus. Andere Männer, die es bis in die Slowakei schaffen, haben eine andere Staatsbürgerschaft. Wie ein Zahnarzt aus dem Irak, der jetzt mit seiner Familie im Bus sitzt. "Die Zugfahrt war das Schlimmste, man konnte kaum atmen, jeder wollte hinein, aber es gab keinen Platz", erzählt er.

Ein Mann steigt an einem Busbahnhof aus einem roten Auto.

Abholung am Hauptbahnhof

Am Wiener Hauptbahnhof angekommen, werden die Flüchtlinge bereits erwartet, unter anderem von Marie Sturminger.

Frauen stehen mit Gepäck an einem Auto.

Die Bühnenbildnerin nimmt  gleich fünf Menschen auf und stellt ihnen  Wohnungen auf Zeit zu Verfügung.  

Eine lächelnde Frau mit Kapuze steht nachts auf der Straße.

Nina S. flüchtete mit ihrer Tochter. Sie ist glücklich, dass sie nun in einer Wohnung aufgenommen wird. 

Als der Bus losfährt, wird es ruhig. Einige schlafen vor Erschöpfung. Viele sind verkühlt, die Kinder krank. Die Angst vor dem Krieg und die Trauer, alles hinter sich gelassen zu haben, steckt ihnen in den Knochen. "Wie sollen wir uns alles neu aufbauen? Es ist alles weg", fragt ein Mann verzweifelt. Hoffnung geben sich die Menschen untereinander. Sie erzählen einander ihre Fluchtgeschichten. Das wirkt befreiend – für den Moment.

Am Wiener Hauptbahnhof angekommen, werden die Flüchtlinge bereits erwartet, unter anderem von Marie Sturminger. Die Bühnenbildnerin nimmt gleich fünf Menschen auf und stellt ihnen Wohnungen auf Zeit zu Verfügung.

So öffnen sich neue Türen, während sich andere schließen.

Ein Soldat steht vor einem Militärfahrzeug im Freien.

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