AfD und Wagenknecht vor Wahlsieg: Heute der Osten, morgen ganz Deutschland?
Wie AfD-Chef Björn Höcke und Ex-Linke Sahra Wagenknecht in Sachsen und Thüringen nach der heutigen Wahl mitbestimmen werden – und vielleicht auch bald in der restlichen Bundesrepublik.
Da ist der Pensionist, knallblaues Polohemd, aus einem kleinen Dorf Thüringens, der "sich nicht länger fremd fühlen will im eigenen Land": "Ich möchte mein Deutschland so, wie es vor 2015 war, bevor Angie die Grenzen aufgemacht hat." Da ist die ehemalige Stadträtin einer 5.000 Einwohner Gemeinde, die früher Grün gewählt hat, jetzt mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht sympathisiert – "weil das, wofür die Grünen heute stehen, absolut realitätsfremd für die normalen Leute ist".
Da ist die Unternehmerin, die ein gehobenes Lokal in der Dresdner Innenstadt betreibt, sich über den Fachkräftemangel und die Inflation empört und für den Verbleib eines albanischen Lehrlings kämpft – und trotz des Frusts die regierende CDU wählen wird. Und da ist die Aktivistin und junge Mutter, die ihren Kindern in der Sandkiste zusieht, und sich wünscht, dass diese in einem Land aufwachsen können, "in dem Nazis nicht aufmarschieren dürfen".
Diese Menschen zählen zu den rund fünf Millionen Wahlberechtigten, die heute, Sonntag, in Sachsen und Thüringen einen neuen Landtag wählen. Seit Wochen blickt ganz Deutschland und darüber hinaus auf die beiden ostdeutschen Bundesländer. Denn den Umfragen zufolge dürfte die in beiden Ländern vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestufte "Alternative für Deutschland" (AfD) ein historisches Ergebnis einfahren, in Thüringen sogar stärkste Kraft werden. Auch das neu gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) der Ex-Linken-Politikerin dürfte mit seinen Positionen, die links und rechts vereinen, zu den großen Gewinnern zählen, während die in Berlin regierenden Ampel-Parteien aus den Landtagen fallen könnten (Fünf-Prozent-Hürde).
Wie stark werden die AfD und das BSW in Sachsen und Thüringen künftig mitbestimmen? Und was bedeuten die Ergebnisse für die Ampel-Regierung – und ganz Deutschland?
Selten wurden Landtagswahlen so sehr von Bundesthemen wie Migration und Außenpolitik dominiert wie diese: Der Rechtsextremist Höcke hetzte gegen die "Kartellparteien", die "den Souverän", das deutsche Volk, aushebeln wollten; "der Irrweg der erzwungenen Multikulturalisierung" müsse beendet werden. Die Ex-Linke Wagenknecht sprach von der Ampel-Regierung als "Moralweltmeister", die die Kriegsgefahr für Deutschland erhöhe, und rief zu einer "schallenden Ohrfeige, die die Ampel für ihre Politik verdient hat", auf.
Beide Parteien katalysieren einen Frust auf den Westen und die Ampel-Regierung, der in vielen Teilen der Bevölkerung vorherrscht. Das Gefühl, nicht gehört zu werden, "dass für alles mehr Geld da ist als für uns, für Flüchtlinge und Waffenlieferungen", sagt eine ältere Frau beim Sommerfest der AfD in Erfurt.
Dieses Empfinden gibt es nicht erst seit Kurzem, sitzt seit dem Mauerfall bei vielen Ostdeutschen tief. Andere deuten auf die DDR-Vergangenheit und die zu wenig aufgearbeitete NS-Zeit hin; die Hemmung, eine rechtsextreme AfD zu wählen, sei deswegen geringer.
Geschlossen gegen die AfD
Geschlossen haben alle relevanten Parteien eine Koalitionsbildung mit der AfD nach der Wahl ausgeschossen – auch wenn sie stimmenstärkste Partei würde, etwa in Thüringen. Dort warnte der Ministerpräsident der Linken, Bodo Ramelow, sogar vor einer "Rückkehr in die 30er-Jahre": In Thüringen war Hitlers NSDAP erstmals an einer Regierung beteiligt, bevor die Machtergreifung in ganz Deutschland folgte.
Rechnerisch gingen sich in beiden Bundesländern Koalitionen an der AfD vorbei aus – sofern sich die CDU mit dem BSW zusammenrauft. Dieses hat als Bedingung für eine Zusammenarbeit ein Abrücken von der militärischen Unterstützung der Ukraine gefordert – ein Tabu für die CDU.
Trotzdem könnte die AfD Einfluss auf die Gesetzgebung haben – und zwar, wenn sie über 30 Prozent erzielt und ein Drittel der Abgeordneten im Parlament stellt. Dann würde sie über eine Sperrminorität verfügen, könnte Verfassungsänderungen oder Neubesetzungen in der Justiz, für die eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig ist, blockieren. Sammelt die AfD hinter sich eine Mehrheit, könnte sie das Amt des Parlamentspräsidenten besetzen. Möglich ist auch, dass Gesetze mit Stimmen der AfD beschlossen werden – das hat zumindest das BSW in Thüringen nicht ausgeschlossen; die thüringische CDU hat das in der Vergangenheit bereits getan. Das könnte vor allem dann passieren, wenn es zu einer CDU-Minderheitsregierung in Thüringen kommt, was nicht ausgeschlossen wird.
Der Osten holt auf, gleicht sich irgendwann dem Westen an. Das war lange Zeit die Vorstellung. Nicht nur angesichts der bestehenden Lohn- und Wohlstandsunterschiede zwischen Ost und West hat sich die These als falsch erwiesen. Manchen Politologen zufolge ist der Osten sogar ein Ausblick für das, was dem Westen in naher Zukunft blüht: große Stimmenverluste bei den etablierten Parteien, Sympathien gegenüber parteilosen Kandidaten und ein Erstarken von "Protestparteien". Die AfD ist auch in westdeutschen Bundesländern auf dem Vormarsch.
Höcke selbst tönte bei Wahlkampfveranstaltungen, die Regierungsverantwortung in Thüringen sei nur der Anfang, das Ziel sei Berlin. Im BSW herrschen unterschiedliche Meinungen darüber, ob man einer Regierungsbeteiligung überhaupt zustimmen sollte. Zu groß ist die Angst vor einem Scheitern und Negativauswirkungen auf die Bundestagswahl 2025.
Auch wenn die Landtagswahlen nur die Meinungen eines Bruchteils der Bevölkerung in der Bundesrepublik abbilden: Sollten die Ampel-Parteien aus den Landtagen fallen, wäre das für Berlin desaströs. Das Verhältnis der Koalitionsparteien gilt als zerrütteter denn je. Kanzler Olaf Scholz (SPD) sprach zuletzt von einem "Schlachtfeld". Bei der Bundestagswahl 2021 haben die Stimmen aus dem Osten wesentlich zum Sieg Scholz’ beigetragen. Davon kann er derzeit nur träumen.
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