Israel: Spaltung in Fromme und Weltliche
„Hier kommst du nicht lebend raus, dachte ich, jetzt stirbst du!“ Dass dies in der Nacht zum Montag nicht Eyal Ziporis (41) letzte Gedanken waren, verdankt er dem beherzten Eingreifen eines Notarzt-Teams. Es zog den verletzten Busfahrer aus seinem verwüsteten Bus und brachte ihn ins Krankenhaus.
Ein tobender Mob Dutzender Randalierer hatte in der Hauptstraße der orthodoxen Stadt Bney Brak nördlich von Tel Aviv erst dem Bus den Wegversperrt. Dabei flogen schon Steine. Dann setzte es Prügel. Ein friedlicher Busfahrer war für die ultra-orthodoxen Juden plötzlich ein Symbol weltlicher Macht.
„Israel hat sein Wir verloren, es gibt nur noch die Einen und die Anderen“, beschreibt die Psychologin Liras Margalit einer tiefe Identitätskrise.
Obwohl: Straßenunruhen in orthodoxen Wohngegenden sind nicht neu. Gründe gibt es genug: Die Frommen sehen Archäologie als Grabschschändung, Arbeit am Sabbat-Ruhetag ist ihnen ein Gräuel – und in Corona-Zeiten weigern sie sich, die Schließung ihrer Schulen und Lehrhäuser hinzunehmen. Der Hass der Gläubigen richtet sich gegen eine vermeintliche Fremdherrschaft des Unglaubens. Was im Gegenzug Hass der Weltlichen weckt, die letztlich so ungläubig gar nicht sind. Doch kommt für sie jüdische Selbstbestimmung, Staatlichkeit und Gleichheit vor dem Gesetz vor Gottes Gesetz, dem einzigen für die Orthodoxen gültigen.
Hohe Impfbereitschaft
Wobei die Verweigerung der orthodoxen Rabbiner nicht alle Maßnahmen der Regierung umfasst. So unterstützen sie weiter mit Wort und gutem Beispiel Israels rasante Impfkampagne. Mit fast 200.000 Impfungen täglich. Bereits mehr als 2,5 der neun Millionen Israelis haben die erste Dosis erhalten. Über eine Million hat auch schon die zweite hinter sich. Die Impfbereitschaft ist unter orthodoxen Juden sogar etwas höher als der Durchschnitt.
Was nicht die Gewaltbereitschaft gegen die Einstellung des Unterrichts mindert. Sonst sind es die radikalen Antizionisten der „Jerusalemer Abspaltung“, die Randale mit der Polizei anführen. Diesmal sind es aber auch angesehene Lehrhäuser, vor denen es immer wieder im Lockdown zu Krawallen mit der Polizei kommt. Das Vischnitzer Lehrhaus in Bney Brak, das von Grodno in Aschdod, sogar die sonst eher pragmatischen Litauer sind vorne mit dabei. Osteuropäische Namen aus einer vergangenen Welt. In der sie Lehre und Schrift gegen den Zwang von Tyrannen schützen mussten. Jetzt ist Israels weltliche Regierung der Tyrann, der mit Corona-Beschränkungen die gottesfürchtigen Juden verfolgt und bedrängt.
Dabei wartete am Sonntag die Polizei in Bet Schemesch geduldig auf das Ende des abschließenden Tischgebets, bevor sie Hunderte Hochzeitsgäste – alle ohne Mundschutz, ohne Distanzwahrung – nach Hause schickte. Kaum war der letzte Segensspruch gesprochen, flogen den Polizisten die Speisereste um die Ohren. In Aschdod wurden am Sonntag 14 Polizisten durch Attacken von Seminaristen verletzt.
Die Gewaltbereitschaft verlagert sich vom Rand in die Mitte der orthodoxen Gesellschaft. Eine Folge der bisherigen Laxheit der Polizei, die auf Wink von oben in frommen Wohnvierteln kaum Kontrollen durchführte. Um nicht die orthodoxen Parteien zu verärgern, Premier Benjamin Netanjahus treueste Bündnispartner.
Andere sehen hinter der wachsenden Gewaltbereitschaft vor allem eine tiefe Verunsicherung der strengfrommen Gesellschaft. Denn es gibt auch eine wachsende Bereitschaft vieler orthodoxer Juden zur Anpassung an die säkulare Umwelt. Immer mehr von ihnen suchen nach ihrem Schriftstudium – ohne Fremdsprachen und nur mit Grundkenntnissen der Algebra – eine weltliche Fortbildung. So gibt es an weltlichen Hochschulen eigene IT-Kurse für Orthodoxe.
Freiwillig zur Armee
Immer mehr strengfromme Juden melden sich sogar freiwillig zum verpönten Armeedienst. Die Kinderzahl in den frommen Familien liegt weit über dem Durchschnitt Israels. Doch die absolute Zahl der Israelis, die sich als strengfromm bezeichnen, steigt kaum. So sehen die Rabbiner durch die Gefahr der Verweltlichung ihren letztlich totalen Führungsanspruch bedroht.
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