Vorbild Korea: Ukraine wirft Russland Teilung des Landes vor
Tag 32 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine: Wieder persönliche Verhandlungen
Nach rund zweiwöchigen Friedensverhandlungen im Online-Format wollen die Delegationen aus der Ukraine und Russland am Montag wieder persönlich zusammenkommen. Und zwar in Istanbul in der Türkei. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij ist bei Sicherheitsgarantien durch dritte Parteien bereit, im Rahmen von Friedensverhandlungen mit Russland über einen
neutralen Status seines Landes zu sprechen. Dieser müsse aber später zur Abstimmung gestellt werden, sagt Selenskij in einer Videobotschaft.
Teilung des Landes?
"In der Tat ist das ein Versuch, Nord- und Südkorea in der Ukraine zu schaffen“, sagte der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanow, am Samstag. Moskau sei es nach mehr als einem Monat Krieg nicht gelungen, das ganze Land zu erobern. Daher werde nun versucht, eine von Russland kontrollierte Region zu schaffen.
Guerillakrieg
Budanow kündigte an, dass die Ukraine bald einen Guerillakrieg in den von Russland besetzten Gebieten beginnen werde.
Die von Moskau unterstützte selbst ernannte Volksrepublik Luhansk in der Ostukraine erwägt ein baldiges Referendum über den Beitritt zu Russland. „Ich denke, dass in naher Zukunft ein Referendum auf dem Territorium der Republik abgehalten werden wird“, sagte der dortige Separatisten-Anführer Leonid Passetschnik laut lokalen Medien. „Die Menschen werden von ihrem letztendlich verfassungsmäßigen Recht Gebrauch machen und ihre Meinung über den Beitritt zur Russischen Föderation zum Ausdruck bringen.“
Russland hatte kurz vor seinem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar die selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk in der ostukrainischen Separatisten-Region als unabhängig anerkannt.
Das russische Verteidigungsministerium hatte am Freitag mitgeteilt, dass die Armee 93 Prozent des Regierungsbezirks Luhansk und 54 Prozent des Bezirks Donezk kontrolliere. Man könne nun die Kontrolle über die Donbass-Region in den Fokus nehmen.
Der Generalstab des ukrainischen Militärs erklärte am Sonntag, Russland habe seine „bewaffnete Aggression in vollem Umfang“ fortgesetzt. Allerdings hätten die ukrainischen Streitkräfte sieben Angriffe in den Regionen Donezk und Luhansk zurückgeschlagen. Dabei hätte sie mehrere Panzer und gepanzerte Fahrzeuge zerstört. Die Angaben über die Kämpfe in der Ukraine können nicht unabhängig überprüft werden.
Tschernihiw "komplett verwüstet"
In der von russischen Truppen eingekreisten Stadt Tschernihiw im Norden der Ukraine muss die Bevölkerung ohne Strom, Heizung und Wasser ausharren. Nur die Gasversorgung funktioniere noch teilweise, teilte die Regionalverwaltung am Sonntag mit. Die Infrastruktur sei durch "aktive Kampfhandlungen" in der Stadt zerstört worden. Es werde versucht, die Schäden zu reparieren, schrieb Verwaltungschef Wjatscheslaw Tschaus auf Telegram.
Russische Truppen haben die Stadt dicht an der Grenze zu Russland und Belarus seit längerem eingekesselt. Von Tschernihiw führt eine strategisch wichtige Straße 125 Kilometer nach Süden in die Hauptstadt Kiew.
Schon am Samstag beklagte Bürgermeister Wladyslaw Atroschenko große Zerstörungen durch russische Truppen. "Die Stadt ist komplett verwüstet", sagte er. In den vergangenen Wochen seien mehr als 200 Zivilisten getötet worden.
Von den mehr als 285.000 Einwohnern in Tschernihiw vor dem Krieg sei mittlerweile nicht einmal mehr die Hälfte übrig. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen. Das Stadtbild wird durch zahlreiche mittelalterliche Kirchen und Klöster geprägt, von denen nach ukrainischen Angaben mindestens zwei beschädigt worden sind. Die Ukraine strebt für das Zentrum von Tschernihiw den Status als UNESCO-Weltkulturerbe an.
Treibstoff- und Lebensmittellager
Die Ukraine wirft Russland vor, mit der Zerstörung ukrainischer Treibstoff- und Lebensmittellager begonnen zu haben. Dies bedeute, dass die Regierung in Kiew bald die entsprechenden Vorräte großflächiger verteilen müsse, sagte der Berater des Innenministeriums, Vadym Denysenko, im TV.
Die russischen Streitkräfte haben nach Angaben aus Moskau ein großes Treibstofflager in der Nähe der westukrainischen Stadt Lwiw (Lemberg) zerstört. Aus dem Brennstoffdepot sei das ukrainische Militär im Westen des Landes und nahe Kiew versorgt worden, teilte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, am Sonntag in Moskau mit.
Das deckte sich mit den Angaben aus der Ukraine vom Samstag und Sonntag. Mit von Flugzeugen und Kriegsschiffen abgefeuerten Raketen seien mehrere Militärobjekte in den Gebieten von Lwiw und Kiew zerstört worden, sagte der russische Generalmajor.
Die regionale ukrainische Militärverwaltung hatte am Samstag drei heftige Explosionen am östlichen Stadtrand von Lwiw gemeldet. Am Himmel war eine dicke schwarze Rauchwolke zu sehen. Ein Treibstofflager sei getroffen worden, teilte Bürgermeister Andrij Sadowyj mit. Er sprach von fünf Opfern, ohne weitere Details zu nennen. Zivile Infrastruktur sei nicht getroffen worden.
Insgesamt seien binnen 24 Stunden 67 Militärobjekte zerstört worden, sagte Konaschenkow in Moskau. Darunter seien in der Stadt Lwiw ein vom Militär genutzter Reparaturbetrieb, 30 Kilometer südwestlich von Kiew ein Lager mit Luftabwehrraketen sowie 18 Kampfdrohnen gewesen. Die Angriffe in der Ukraine würden fortgesetzt.
Russland verlegt weitere Truppen an die Grenze
Abgesehen von der Zerstörung der Lager, verlege Russland zwecks Truppenaustauschs Streitkräfte an die Grenze, sagte Denysenko weiter. Dies könne bedeuten, dass Russland neue Versuche unternehmen wolle, die Invasion in der Ukraine voranzutreiben.
Nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums sollen sich die russischen Streitkräfte nun darauf konzentrieren, ukrainische Truppen einzukesseln, die den separatistischen Regionen im Osten des Landes direkt gegenüberstehen. Sie rücken aus Richtung Charkiw im Norden und Mariupol im Süden vor, wie das Ministerium am Sonntag auf Grundlage von Geheimdienstinformationen berichtete.
Das Schlachtfeld in der Nordukraine bleibe hingegen "weitgehend statisch", heißt es, denn im Norden behinderten ukrainische Gegenangriffe die Versuche Russlands, ihre Streitkräfte neu zu organisieren.
Fluchtkorridore
Ukrainischen Behörden können unterdessen bedrängten Zivilisten weiter nicht direkt bei der Flucht aus der schwer umkämpften Stadt Mariupol helfen.
Flüchtlinge aus Mariupol sollten eigentlich am Sonntag mit einem Buskonvoi aus der nahegelegenen Stadt Berdjansk abgeholt werden, hatte Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk angekündigt. 15 Busse sollten die Menschen weiter in die zentralukrainische Stadt Saporischschja bringen. Wer die Flucht aus Mariupol im Auto schaffe, könne in Berdjansk umsonst nachtanken, sagte Wereschtschuk in Kiew in einer Videobotschaft. Die strategisch wichtige Industrie- und Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer ist durch heftige Kämpfe seit Anfang März fast völlig zerstört worden. Dort lebten einmal rund 440.000 Menschen.
Ein zweiter Fluchtkorridor wurde für Sonntag im ostukrainischen Gebiet Luhansk ausgewiesen. Über zehn festgelegte Routen hatten sich am Samstag 5.200 Menschen aus besonders umkämpften Gebieten retten können, wie die Agentur UNIAN meldete. Nach nicht überprüfbaren russischen Angaben ist die Region Luhansk zu mehr als 90 Prozent unter Kontrolle der von Moskau unterstützen Separatisten.
Hafenstädte umkämpft
Die ukrainischen Hafenstädte Mariupol, Berdjansk, Cherson, Mykolajiw und Odessa rücken zunehmend in den Brennpunkt der Kämpfe. Mariupol befindet sich im Belagerungszustand, um Mykolajiw und Cherson toben heftige Kämpfe und Odessa wird derzeit von der russischen Marine blockiert. Experten erwarten hier, analog zu Mariupol, eine amphibische Landung. In Berdjansk gelang es hingegen ukrainischen Spezialkräften, ein russisches Landungsschiff bei der Frachtentladung zu versenken.
Die Kampfhandlungen und die daraus resultierenden Verluste dieser wichtigen Städte und ihrer Hafenanlagen können in den nächsten Wochen und Monaten für die Ukraine und in weiterer Folge auch für globale Versorgungslage katastrophale Auswirkungen haben.
"Die Häfen von Mariupol und Berjansk sind beschädigt, Cherson, Mykolajiw und Odessa sind blockiert. Im Schwarzen Meer wurden nun erstmals freischwimmende, offensichtlich losgerissene Seeminen entdeckt. Diese stellen eine wesentliche Bedrohung dar und bringen im Moment die zivile Schifffahrt zum Erliegen", sagt Oberst Markus Reisner, Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie, im Gespräch mit der APA.
Er rechnet damit, dass nun die Versicherungsprämien für die zivile Schifffahrt in die Höhe getrieben und sich nur wenige Schifffahrtsunternehmen finden werden, die das Getreide in der Ukraine in den nächsten Monaten abholen werden. Zudem ist völlig unklar, ob in den umkämpften Städten und deren Häfen überhaupt mit den Frachtschiffen angelegt werden könne.
Die derzeitige Sicherheitslage lässt dies nicht zu und zudem beherrscht die russische Marine das Schwarze sowie das Asowsche Meer. Die Ukraine könnte so auf Millionen Tonnen Weizen, Soja und Mais sitzen bleiben.
Türkei für weitere Gespräche mit Russland
Die Türkei fordert weitere Gespräche mit Russland für eine Beendigung des Kriegs in der Ukraine. Die Türkei und andere Staaten müssten weiterhin mit Russland reden, sagt der türkische Präsidialamtssprecher Ibrahim Kalin auf dem internationalen Doha-Forum in Katar. "Wenn jeder die Brücken zu Russland niederbrennt, wer wird dann am Ende des Tages mit ihnen reden?", fragt der Sprecher von Staatschef Recep Tayyip Erdogan.
Die Ukraine brauche mehr Hilfe und müsse mit allen Mitteln unterstützt werden, damit sie sich selbst verteidigen könne. Aber die russische Seite müsse angehört werden, "so oder so".
Biden provoziert mit Putin-Aussage in Polen
Bidens Rede war der Abschluss seiner mehrtägigen Europa-Reise, die ihn nach Brüssel und Polen führte. Ziel des US-Präsidenten war es, die Geschlossenheit des Westens gegenüber Russland zu zementieren und dem NATO-Staat Polen die Unterstützung der Verbündeten zu versichern. Biden besuchte in Polen stationierte US-Truppen nur 90 Kilometer von der Grenze entfernt und sprach mit Geflüchteten. Höhepunkt seiner Reise sollte die Rede im Innenhof des Königsschlosses sein. Der Ort hat historische Bedeutung - das Schloss gilt als Symbol der im Zweiten Weltkrieg von Nazi-Deutschland großteils zerstörten und später wiederaufgebauten Stadt.
Biden beschwor in Warschau die Werte der Demokratie im Kampf gegen Autokratie und Unterdrückung. "Dieser Kampf wird nicht in Tagen oder Monaten gewonnen werden", sagte er. Er sei die "Aufgabe dieser Generation". Der US-Präsident warb um die Unterstützung der Weltöffentlichkeit für die Ukraine. Das Weiße Haus hob zuvor immer wieder die Bedeutung von Bidens Worten hervor. Es sollte ein wichtiger Moment für Bidens Präsidentschaft werden, vielleicht gar eine historische Rede. Doch ausgerechnet ein Satz, der so wohl gar nicht Redemanuskript gestanden war, hallt weithin nach: "Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben." Gemeint war Russlands Präsident Wladimir Putin.
"Mörderischer Diktator" und "Tyrann" und zuletzt sogar "Schlächter": Biden hat für Putin seit Beginn des brutalen Kriegs in der Ukraine schon viele Beschimpfungen gefunden. Aber dass Biden bei seiner Rede im Warschauer Königsschloss am Samstagabend Putins Macht offen infrage stellte, hat eine neue Dimension. Starke Worte angesichts des Grauens in der Ukraine oder ein folgenschwerer Fehler?
Kohl (ORF) zu Bidens Aussagen
Beraterinnen und Berater des Präsidenten seien völlig überrascht gewesen, berichteten US-Medien. Es dauerte nicht lange, bis das Weiße Haus versuchte, die Worte des Präsidenten wieder einzufangen. "Die Botschaft des Präsidenten war es, dass es Putin nicht erlaubt sein darf, Macht über seine Nachbarn oder die Region zu haben", lautete die etwas bemühte Erklärung. Auch US-Außenminister Antony Blinken versuchte am Sonntag in Jerusalem, den Satz des Präsidenten wieder gerade zu rücken. "Wir verfolgen keine Strategie eines Regimewechsels in Russland oder irgendwo anders."
In Russland macht sich indes Entsetzen breit. Der Kreml stellt klar: "Das entscheidet nicht Biden, der Präsident Russlands wird vom russischen Volk gewählt." Auch aus dem Westen kommt vorsichtige Kritik an Biden. "Wir dürfen nicht eskalieren, weder mit Worten noch mit Taten", sagte Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron am Sonntag.
Darüber, ob Bidens Satz schlau war, gehen auch die Meinungen in den USA auseinander. "Es war etwas, das er sagen musste", sagte der Militärexperte Mark Hertling. Während über die Nuancen von Bidens Worten diskutiert werde, treibe Putin Millionen von Menschen in die Flucht und töte Tausende. Anders sieht es das Magazin "The Atlantic": Selbst diejenigen, die meinen, dass Biden in dieser Krise bisher eine gute Figur gemacht habe, sollten zugeben, dass die Äußerung ein "Fehler" gewesen sei. Die "Washington Post" sieht in Bidens Satz eine Umkehr der bisher erklärten US-Politik mit unklaren Folgen.
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