Hinter der Fassade Moskaus: Was die Hauptstadt zum Krieg sagt
Dekadenz und Reichtum hatten System in Russlands Hauptstadt. Und wie sieht es heute aus? Über die Reaktionen auf den Krieg und die Wirkung der Sanktionen.
Moskaus Stadtzentrum habe sich gerade in seinem Blickfeld ausgedehnt, erklärt er am Beginn des Telefongesprächs und beantwortet die Frage nach der allgemeinen Lage: „Oberflächlich betrachtet, ist die Situation relativ normal.“
Wer einmal Besucher in Moskau war, wird sofort eingeholt von der eigenen Oberflächlichkeit und zeichnet das klischeehafte Bild von der Kulisse, die sich nicht entscheiden kann zwischen verspieltem Kitsch und respekteinflößender Machtdemonstration. Hier war Russland schon immer speziell. Menschen aus gehobener Mittelschicht pflegten ihr Image und ihr uniformes Schönheitsideal. Stiegen stets glitzernd aus schwarzen Limousinen, um sich und ihren neuen Reichtum zu zelebrieren, ausschweifend und tabulos, einen Lebensstil zu führen, der einfach ...
„... dekadent ist“, ergänzt Chris Helmbrecht.
Warum man gerade ihn damit konfrontiert, hat einen logischen Grund. Der 50-jährige Deutsche lebt seit fast zwei Jahrzehnten in Moskau. Und er hat lange profitiert von der Dekadenz. Als Veranstalter von Partys, als DJ, als vor keiner Zügellosigkeit haltmachender Buchautor.
Und jetzt? Zuerst Corona, jetzt ein Krieg, der im öffentlichen Sprachgebrauch als Konflikt, oder gar als „The Situation“ verniedlicht werden muss, hinterlassen Spuren.
Helmbrecht wechselte schon vor zwei Jahren in die Investment-Branche. Aber als die Sanktionen kamen, ging sein ausländischer Arbeitgeber. Mit ihm sein Job.
„Seitdem bin ich nur mehr Zeitzeuge“ sagt er. Darauf Bedacht nehmend, welche Wortwahl wo und wann getroffen werden darf. Auch er habe einmal geglaubt, die Giftanschläge gegen Systemkritiker wurden in anderen Kreisen organisiert, nur um Putin schlecht aussehen zu lassen. „Ich habe kapiert, dass das ein großer Irrtum war.“
Leben in einer Blase
Noch ist nicht absehbar, wie es sich auf Russlands Präsidenten und dessen Regime auswirkt, wenn die Blase der „besseren Gesellschaft“ zerplatzt, weil selbige den Verfall ihrer eigenwilligen Sitten befürchtet. Viele seien fluchtartig am Beginn des Krieges „abgehauen“. Auch Russen aus der gehobenen Mittelklasse. Alleine 250.000 aus der Hauptstadt, sagt Helmbrecht, dessen eigener Plan B die Rückkehr nach Deutschland nicht ausschließt.
Noch seien sie gut gefüllt, die einschlägigen Klubs. „Viele in der Moskauer Gesellschaft schlafen ohnehin auf ihren Euro-Paketen. Weitgehend ist die erste Panik verflogen, der Rubel könnte bald nichts mehr wert sein.“ Obwohl sich die Preise für einige Nahrungsmittel wie Milch oder Pasta um 20 bis 30 Prozent verteuert hätten, Zucker zur Mangelware geworden ist, scheint die allgemeine Grundversorgung gesichert. Aber wie lange noch? „Ein Supermarktbetreiber hat mir versichert, für die nächsten zwei, drei Monate Ware auf Lager zu haben.“
12,7 Millionen Menschen wohnen in Moskau. Laut dem amerikanischen Wirtschaftsmagazin Forbes beheimatet die Stadt die weltweit dritthöchste Anzahl an Milliardären (US-Dollar). Das Durchschnittseinkommen ist mit dem der Niederlande zu vergleichen. Es übersteigt damit Russlands Durchschnitt um fast das Doppelte.
Georg Redlhammer nahm 2008 als Marketingleiter großer Autokonzerne berufliche Verbindung mit der Unternehmer-Familie Agalarow auf, um den großen Automobilsalon in Moskau zu veranstalten. Für die Fußballweltmeisterschaft 2018 baute Milliardär Aras Agalarow zwei Stadien.
Die Stimmung in den vergangenen Wochen habe sich spürbar gedreht. "Anfänglich war bei vielen ein Schamgefühl bemerkbar. Leute, die einen früher ignoriert haben, suchten plötzlich die Kommunikation." Mittlerweile reagiert ein Großteil der Bevölkerung – entweder aus bloßer Ignoranz ("Warum muss ich darüber überhaupt etwas wissen?"), oder doch von der Propaganda beeinflusst – mit Verbitterung. "Das Gefühl nimmt überhand, dass die ganze Welt sich jetzt gegen die Russen stellt."
Proteste sind gefährlich, auch deshalb rar. Passieren eher auf kulturellen als auf wirtschaftlichen Schauplätzen. Wie in der Musikschule Gnessin, weil der Schuldirektor mit dem Propagandazeichen "Z" auf seinem T-Shirt Beethovens 5. Sinfonie dirigierte.
Noch schlagen sich weggebrochene Einnahmen nicht auf die Befriedigung alltäglicher Bedürfnisse nieder. Im Interview eines deutschen TV-Senders ist eine junge Frau zutiefst traurig, weil sie plötzlich ihre Luxusklamotten nicht mehr bekommt. Dabei sollen sich Millionen von konsumbereiten Russen bereits auf die geänderten Bedingungen eingestellt haben, Visa und Mastercard sind sowieso out, die neue Kreditkarte kommt aus China und heißt Union Pay (CUP).
Der Westen ist weg
Ortswechsel. Krasnogorsk, am Rand von Moskau. In der 90 Hektar großen „Crocus City“ hat der Immobilienentwickler Aras Agalarow zwei seiner vier Einkaufstempel errichtet. VEGAS – der Hinweis, einst dem westlichen Kapitalismus zumindest auf Augenhöhe begegnet zu sein. Jetzt wirken die Leuchtbuchstaben auf dem Gebäude, in dem sich Kopien des New Yorker Time Square und des Rockefeller Centers verstecken, wie das Relikt eines fatalen Irrtums. Westliche Luxusmarken sind verschwunden. Russische Firmen nützen die Verkaufsflächen, die sie sich vor dem 24. Februar nie leisten hätten können. Improvisation, die mit Verlust verbunden ist.
Seit einigen Jahren verfolgt Georg Redlhammer als Marketingberater für Automobilmarken in Russland das Ziel, die E-Mobilität salonfähig zu machen. Auch die Crocus City hätte mit E-Ladestationen ausgerüstet werden sollen. "Es gab großartige Projekte mit vielen Premiummarken. Innerhalb von wenigen Tagen war dann alles anders", sagt der 55-jährige Oberösterreicher.
Geplatzter Traum
Die Verkaufszahlen in Russland seien im März mit einem Minus von 4,8 Prozent noch erträglich gewesen, "die Zahlen für die kommenden Monate werden aber vernichtend sein".
Bedeutet dies das Ende aller Bemühungen?
Redlhammer kramt in seinen Gedanken nach dem optimistischen, für ihn gültigen Schlüsselsatz: "Die Zusammenarbeit pausiert. Die Freundschaft bleibt."
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