Kreml-Propaganda: Der Krieg im Kopf
„Warum haben sie uns das nur angetan?“, sagt die Frau, dunkle Haare, Mitte 50, ins Mikrofon. „Sie haben unsere Stadt mit Granaten zerstört, uns vertrieben. Und die Kinder in den Bunkern hungern.“
Im Ersten Kanal laufen Abendnachrichten, die Bilder sind schockierend. Das Paar spricht verstört in die Kamera, die Frau wischt sich Tränen aus dem Gesicht. Der Sprecher sagt: „Nachvollziehbare Emotionen von Flüchtlingen aus Mariupol. Die ukrainische Armee hat ihre Heimat völlig zerstört.“
Die Welt im russischen Staatsfernsehen ist eine verkehrte. Da, wo Europa Bilder von russischer Zerstörungswut sieht, bekommt man das Gegenteil serviert: In allen Kanälen – mittlerweile gibt es keinen mehr, der abweichend berichtet, die großen Auslandsmedien sind gesperrt – schießen ukrainische Soldaten auf die eigene Bevölkerung. Es herrscht „Kiewer Terror“. Der einzige Lichtblick? Die „russischen Befreier“.
Jahrelange Propaganda
Man fragt sich: Wie können die Russen das nur glauben? Wie kann Putin die Ostukraine „befreien“, indem er Kiew bombardiert?
So einfach ist es nicht. Propaganda prägt das Weltbild der Russen seit Generationen. Daran hat sich auch mit dem Fall der UdSSR wenig geändert. Seit Putins Amtsantritt 1999 wird der Westen wieder als verderbter Moloch porträtiert, als Hort des Bösen, der die Ukraine korrumpiert. Diese Indoktrination funktioniert so perfekt, dass es darüber Familien zerreißt: Michail, der in Kiew lebt, erzählt auf Telegram von seinem Vater im Ural, der nicht an den Krieg glaubt. „Er spricht von einem humanitären Einsatz, von Befreiung“, schreibt er. Irina aus Charkiw, jener Stadt, die seit Wochen von russischen Soldaten belagert wird, geht es ähnlich. Ihr Onkel in Russland hat sich zur Armee gemeldet, weil er die Ukraine „von Nazis befreien will. Mir sagt er, ich falle auf die ukrainische Propaganda herein“.
Geschichten wie diese häufen sich in sozialen Netzwerken. Das Setting ist meist gleich: Die Kritischen sind jung, internetaffin, breit informiert – die, die ihnen nicht glauben, sind die TV-geprägte Elterngeneration. Sie hatte Putin von Beginn an im Blick. TV-Stationen wurden über die Jahre in teils staatliche Hand, teils in Oligarchennähe überführt; die großen Zeitungen wurden an den Kreml angedockt und erzählen seit Jahren das Gleiche. Die wenigen liberalen Medien drangsalierte Putin in den vergangenen zwei Jahren mehr und mehr bis hin zu Verboten – eine Vorbereitung auf den Krieg.
Das hat den Effekt, dass laut Umfragen zumindest 60 Prozent hinter Putin stehen, Tendenz – auch ob der Repressionen, die bei Widerspruch drohen – steigend.
Wobei die liberalen Medien auch vor dem Krieg nicht den Zulauf hatten, den man sich im Westen vorstellt. Ihr Marktanteil lag im einstelligen Bereich; Alexej Nawalny, der als einziger Oppositioneller die Klaviatur der Massenmedien und des Internets perfekt beherrschte, kam nie auf mehr als ein paar Prozentpunkte Zustimmung.
Es gehört damit auch zur Wahrheit, dass viele Russen glauben wollen, was sie hören. „Das Phänomen nennt sich kognitive Dissonanz“, so Maria Snegovaya von der George Washington University. Werden Menschen mit Dingen konfrontiert, die ihre Weltvorstellung erschüttern, führt das zu „mentalem Unbehagen, das sie vermeiden wollen“. Die Folge: Verdrängen und Ablehnen, ein Vorgang, den man vor allem aus Autokratien kennt. Während der Coronakrise konnte man ähnliche Tendenzen auch hierzulande beobachten. Da negierten Skeptiker die Wissenschaft, absurde Falschinformationen, bezeichnenderweise oft aus Russland, fielen auf fruchtbaren Boden.
Schweigespirale
In Russland hat sich dieser Zustand verselbstständigt. Die Selbstzensur der schweigenden Mehrheit habe eine „Schweigespirale“ in Gang gesetzt, so Pippa Norris und Kseniya Kizlova, von der London School of Economics. Immer mehr Menschen trauen sich nichts zu sagen, der soziale Druck auf den Rest steigt.
Wie schafft man es also, diese Spirale zu brechen?
Versuche gibt es. Sei es Arnold Schwarzenegger mit seinem emotionalen Video, seien es die 15.000 heldenhaften Russen, die demonstrierten und in Haft landeten. Oder Marina Owsjannikowa, die mit einem „No-War“-Schild eine Sendung des Staats-TV stürmte. Sie sagt, ihr Sohn spreche nicht mehr mit ihr.
Auch Paulius Senuta ist einer, der was tun will. Der Litauer versucht Russen im Ausland dazu zu bringen, Russen im Inland vom Krieg zu erzählen. Vierzig Millionen Telefonnummern hat er auf der Seite „Call Russia“ gelistet, wer russisch spricht, kann eine anrufen. 100.000 Anrufe gab es bereits, aber er kämpft mit dem altbekannten Problem: „Ich hatte anfangs selbst zwei Bekannte angerufen, die in Moskau leben, gut gebildet sind, internationale Unternehmen leiten“, sagt er zum KURIER. Überzeugen konnte er sie nicht: „Du hast nicht das ganze Bild“, sagten sie ihm.
Immerhin, mittlerweile habe sich der Ton geändert. Viele Angerufene hätten zumindest zugehört. Zeitgleich hätten sie Angst, vor anderen Russen, vor Anschwärzung – weil man ja mit dem Ausland über den Krieg spricht.
Nicht nur Putins Krieg
Olaf Scholz spricht von „Putins Krieg“. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Viele Russen tragen ihn mit, ob unter Druck oder ohne. Die Nachwehen der UdSSR, in der man sich an die von oben vorgegebene Realität anpasste, und 22 Jahre Putin-Propaganda haben ihr Werk getan. Die Prognose fällt darum düster aus: Bis sich das ändert, wird es wohl noch lange dauern – selbst nach einem Machtwechsel.
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