Lehrerin aus Odessa: "Ich will von Putin nicht beschützt werden"
Eine Lehrerin aus Odessa erzählt von ihrem dramatischen Alltag, den Ängsten ihrer Schüler und warum sie die Stadt nicht verlassen will.
19.03.22, 05:00
aus Mailand von Andrea Affaticati
Nie im Leben hätten wir uns im Sommer vor zehn Jahren, als wir uns in Odessa kennenlernten, vorstellen können, uns inmitten dieser Tragödie wiederzusehen. Karina ist in ihrer Wohnung in Odessa, ich in meiner sicheren in Mailand, wir sprechen über Skype.
Karina Beigelzimer ist 45 Jahre alt, Deutschlehrerin und freie Journalistin. Tiefe Schatten umringen ihre Augen. Man sieht ihr die Erschöpfung an. Odessa, die drittgrößte und wichtigste Hafenstadt des Landes am Schwarzen Meer, und ihre Einwohner bangen ums Überleben. Vor der Küste kreuzen russische Kriegsschiffe. Das ukrainische Militär hat Barrikaden errichtet, um einen Angriff zu vereiteln.
"Gestern habe ich das erste Mal seit zehn Tagen durchgeschlafen, weil es keinen Luftalarm gegeben hat", erzählt Karina. "Normalerweise hört man die Sirenen jede Nacht für mindestens zwei Stunden, vor ein paar Tagen heulten sie von zwei bis sieben Uhr morgens." Trotz der dramatischen Situation versucht Karina, nicht aufzugeben.
Sie unterrichtet Klassen einer siebten, zehnten und zwei elfte Schulstufen – "aber nur mehr online." Das ermögliche auch Schülern, die mittlerweile in der westlichen Ukraine oder schon im Ausland sind, weiter am Unterricht teilzunehmen. "Die Schüler sind natürlich verstört, haben vor den Sirenen, die sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf schrecken, Angst. Sie sagen Sätze wie: ,Man hat uns unsere Kindheit gestohlen’."
Obwohl Odessa von den Russen noch nicht direkt angegriffen worden ist, sei die Not groß. Nicht, was die Grundversorgung betreffe – an Lebensmittel in den Supermärkten fehle es nicht – es könne nur passieren, dass plötzlich Luftalarm ist "und wir alle sofort aus dem Geschäft laufen müssen", erzählt Karina weiter.
Die Not bezieht sich auf die zunehmende Zahl an Arbeitslosen: "Die Fachgeschäfte und der Großteil der Lokale sind geschlossen, das heißt, viele haben keine Arbeit mehr." Zwar garantiert der Staat eine einmalige Unterstützung, doch es gibt viele Schwarzarbeiter, und die gingen leer aus.
"Angreifer müssen weg"
Nach der Schule hilft Karina, wo immer Hilfe benötigt wird. Zum Beispiel vermittelt sie Menschen, die flüchten, Kontakte und Unterkünfte im Westen des Landes oder im Ausland. Sie selber denkt zumindest im Moment noch nicht daran, wegzugehen: "Warum sollte ich? Odessa ist meine Heimatstadt. Die Angreifer müssen weg. Ich will von Putin nicht beschützt werden." Außerdem seien da noch ihre schon sehr betagten Eltern.
"Natürlich hab ich Angst. Hunderttausend Ängste. Die ersten Kriegstage waren besonders schlimm. Dann habe ich aber verstanden, dass ich reagieren muss. Sonst wäre ich verrückt geworden."
Bevor wir uns verabschieden, hält Karina einen Moment inne und sagt: "Meine größte Angst ist es, dass dieser Krieg sehr lange dauert. Dass die Russen weder gewinnen noch verlieren und deswegen nicht aufgeben."
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