Flucht aus der Ukraine: "Über Erlebtes zu sprechen, ist jetzt nicht gefragt"
Mehr als 100.000 Menschen aus der Ukraine sind bisher auf ihrer Flucht vor dem Krieg nach Österreich gekommen. Drei Viertel davon reisen weiter, künftig werden aber laut UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) in Österreich mehr Menschen bleiben. Während in den ersten Wellen überwiegend Personen mit Angehörigen oder anderen Kontakten in Ländern wie Spanien, Italien oder Deutschland gekommen sind, seien es nun vermehrt Menschen ohne klares Endziel. Wie können sie am besten unterstützt werden, welche Hilfe brauchen sie im persönlichen Kontakt? Der KURIER hat bei Barbara Juen, Spezialistin für Krisenintervention beim Roten Kreuz und Lehrende an der Universität Innsbruck, nachgefragt.
Was brauchen Betroffene, die jetzt nach Österreich kommen?
Zu allererst natürlich die Basissachen wie eine Wohnmöglichkeit, finanzielle Unterstützung. Alle, Erwachsene und Kinder, brauchen psychosoziale Unterstützung, das heißt, man muss ihnen Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen, die ihnen eine Erholung ermöglichen. Es gilt immer, dass man die Menschen fragt, was sie brauchen, und dann versucht, das zu organisieren, was am dringendsten benötigt wird. Zentral ist neben einer Unterkunft etwa auch, dass die Kinder in den Kindergarten oder in die Schule gehen können, dass Erwachsene arbeiten gehen können.
Welche Rolle spielt dieses rasche Ankommen in Routinen?
Das ist ganz wichtig. Wir wissen, dass es für Geflüchtete eine unglaublich belastende Zeit ist, wenn man nur wartet, aber nicht arbeiten, nichts Nützliches tun kann. Wir haben im Lauf der Pandemie gelernt, wie sehr Kinder es brauchen, in die Schule zu gehen. Bei dieser Flüchtlingskrise haben wir die einmalige Chance, dass es wirklich ganz schnell gehen kann, weil Sonderregelungen für diese Gruppe innerhalb der EU gelten.
Was brauchen Kinder im Unterschied zu Erwachsenen?
Besonders für Kinder sind verfügbare Bezugspersonen und Alltagsroutinen notwendig, also Schule und Kindergarten, der Kontakt mit Gleichaltrigen und Möglichkeiten zum Spielen, zum Ablenken. Die Routine ist deshalb so wichtig, weil der Alltag dadurch vorhersehbar wird, die Kinder wissen, was als nächstes passiert, wie die Tage verlaufen werden. Dadurch erhalten sie ein Stück weit Kontrolle und es ist nicht alles so unvorhersehbar. Es gibt einen Spruch der Psychologin Ann Masten, die sich viel mit Resilienz auseinandergesetzt hat: "Wenn außergewöhnliche Situationen passieren, brauchen Kinder nicht das Außergewöhnliche, sie brauchen das Gewöhnliche." Dieser Spruch gilt im Übrigen auch für Erwachsene.
Ist es gut, wenn die Nachrichtenlange ständig verfolgt wird?
Zum einen ist es sehr gut, weil die Betroffenen Informationen brauchen. Informationen sind ganz wichtig, nur, wenn ich Informationen habe, kann ich handeln. Auch schlechte Nachrichten sind besser, als es nicht zu wissen. Ein Zuviel kann aber selbst uns, die wir nicht direkt betroffen sind, überrollen. Es braucht daher einen strikten Umgang mit Medien, man sollte nicht ständig im Internet sein, das Handy auch mal weglegen, vor dem Einschlafen nicht noch einmal Nachrichten anschauen. Das ist für die Betroffenen sehr schwer, weil sie auf Nachrichten warten von Angehörigen. Aber es ist auch für sie wichtig, Pausen zu machen. Erwachsene tun sich da schwerer als Kinder, die wirklich rausgehen und spielen, wenn man ihnen Möglichkeiten dazu gibt. Erwachsene können oft nicht schlafen, weil sie sich ständig damit auseinandersetzen. Schlaf und Erholung braucht es aber unbedingt.
Welche Folgen kann der Schlafmangel haben?
In der akuten Stressreaktion haben die meisten Probleme mit dem Schlafen, damit zur Ruhe zu kommen, auch mit dem Essen. Tritt Schlafmangel länger auf, kann das schnell zu physischen und psychischen Problemen führen. Trotz Stressreaktionen muss es die Möglichkeit für Erholungspausen geben. Es kann helfen, rauszugehen, auch selbst aktiv zu werden, etwa andere Geflüchtete zu unterstützen – das ist eine Prävention gegen längerfristige Probleme. Die rasche Eingliederung in einen Arbeitsprozess hilft da sehr.
Wie können Betroffene damit umgehen, dass viele Angehörige, Freunde noch in der Ukraine sind?
Viele Frauen mit Kindern fühlen sich schuldig, dass sie in Sicherheit sind, ihre Familien, die Eltern und ihre Männer, aber noch in der Ukraine. Sie stehen in ständigem Kontakt, bekommen viel mit und sind daher auch ständig in Angst um ihre Angehörigen. Es ist total wichtig, diesen Kontakt aufrecht zu halten, zu wissen, ob Angehörige in relativer Sicherheit sind. Die meisten Leute der ersten Welle haben noch Freunde und Verwandte hier gehabt, in weiteren Wellen werden viele kommen, die niemanden haben. Umso wichtiger ist, dass sie aktiv sein können. Dazu müssen ihre Qualifikationen schnell anerkannt werden, es sind ganz viele Leute mit guter Ausbildung. Viele wollen auch freiwillig selbst für ukrainische Flüchtlinge tätig sein.
Wie kann man als Laie Betroffene gut unterstützen?
Wir sagen immer, wir handeln mit den Personen und nicht für die Personen. Es ist nicht gut, Betroffene als passive Opfer zu behandeln, denen man alles abnimmt und für sie entscheidet oder um sie zu schützen, Informationen vorenthält. Das macht man auch gerne mit Kindern, es ist aber weder für sie noch für Erwachsene günstig. Der Laie hat oft die Vorstellung, dass etwas Außergewöhnliches passiert und ein Fachmann her muss, um Interaktionen zu setzen. Tatsächlich braucht es ganz gewöhnliche Dinge, Sicherheit, den Kontakt mit Angehörigen, Information, Selbstwirksamkeit, also die Möglichkeit, etwas zu tun, und eine Spur von Zukunftsorientierung. Mit der Person über Erfahrungen und Erlebtes zu sprechen, ist jetzt nicht gefragt. Das Verarbeiten kommt viel später. Jetzt geht es darum, was mit mir passiert.
Betroffene selbst entscheiden lassen, was sie besprechen möchten?
Genau. Die andere Person entscheidet, wie sehr sie sich konfrontieren möchte. Das Gegenüber muss verstehen, dass man mit ganz kleinen Interventionen viel erreichen kann. Wenn man im Nachhinein Personen fragt, was ihnen in dieser Situation geholfen hat, ist das etwa der Schaffner im Zug, der sich unglaublich nett gekümmert hat, oder die Frau, die einen angelächelt hat. Es sind ganz kleine Hilfeleistungen, die in Erinnerung bleiben und die ganz bedeutend sind. Natürlich auch die Person, die ihre Wohnung zur Verfügung gestellt hat, aber nicht die therapeutische Intervention.
Welche Rolle spielt Hoffnung?
Eine riesengroße Rolle. Für die meisten, die jetzt da sind, ist selbstverständlich, dass sie wieder zurückgehen werden, weil Familie, Verwandte in der Ukraine sind. Sie wollen wieder zurück und dass alles bald beendet ist. Gleichzeitig spricht die Realität eine andere Sprache. Sehr hoffnungsvoll sind die Menschen nicht. Wir versuchen mit ihnen die unmittelbare Zukunft zu planen, immer nur die nächsten Tage, nicht das nächste Jahr, und überlassen ihnen, was ihre Anliegen sind.
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