Videos brennender russischer Panzer, Berichte über Soldaten, die sich ergeben. „Die russische Armee hat binnen 19 Kriegstagen in der Ukraine höhere Verluste erlitten als während der beiden Tschetschenien-Kriege“, sagte zudem der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij. Russland habe erkannt, dass der Krieg nichts bringe, meinte er in der Nacht auf Dienstag.
Massive Angriffe
Jener Nacht, in der russische Bombardements auf ukrainische Städte massiver waren als je zuvor. Allein auf die Großstadt Charkiw gab es am Montag 65 Artillerieangriffe, die Wohngebäude dem Erdboden gleichmachten. „Die russischen Streitkräfte steigern von Tag zu Tag den Einsatz ihrer Mittel, auch von der Luft aus. Dabei benutzen sie unpräzise Bomben wie in Syrien – und es sind in weiterer Folge auch Flächenbombardements wie im Zweiten Weltkrieg möglich“, analysiert Oberst Markus Reisner für den KURIER die Lage.
Auch den Vormarsch der russischen Streitkräfte am Boden würden die ukrainischen Truppen durch den Einsatz von Panzerabwehrlenkwaffen wie der berüchtigten Javelin nur verzögern können, jedoch nicht verhindern: Die Waffe ermöglicht es Schützen, aus sicherer Entfernung mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein Ziel zu treffen – ein Schuss kostet 160.000 Euro. Auch die sogenannten „Next Generation Light Anti-tank Weapons (NLAW)“ – 41.600 Euro pro Schuss – kosten viel Geld, was aber angesichts der enormen Waffenlieferungen westlicher Staaten vernachlässigbar ist.
Ein Trugschluss
Ist damit die Zeit des Panzers am Gefechtsfeld beendet? „Das anzunehmen wäre ein Trugschluss“, sagt Reisner. „Nach wie vor ist ein Panzer die einzige Möglichkeit für Soldaten, durch die Panzerung geschützt Gebiet in Besitz zu nehmen“, erklärt der Generalstabsoffizier. Selbst wenn von vier angreifenden russischen Panzern gegen eingegrabene ukrainische Stellungen, drei vernichtet würden – einer erreiche schließlich sein Ziel. Und die russischen Verluste liegen gegenüber den ukrainischen im Verhältnis von 3:1 – und damit im Rahmen dessen, was für einen Angriffskrieg einkalkuliert wird.
Dieser Krieg birgt laut Reisner derzeit vier Hauptaugenmerke – und überall hat Moskau das Heft des Handelns in der Hand: Die russischen Streitkräfte führen immer mehr Waffen und Gerät von Norden und Osten an Kiew heran, intensivieren den direkten Beschuss der Stadt mit schwerer Artillerie (siehe Grafik 1).
Damoklesschwert
Mit einer Einnahme Dnipros droht den ukrainischen Verbänden an der Front zu den selbst ernannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk die Einkesselung und damit sehr wahrscheinlich die Vernichtung (siehe 2). Doch auch westlich des Dnepr sind russische Truppen auf dem Vormarsch – und könnten in Richtung Norden vorstoßen. „Hier ist vor allem Steppe, somit können Angriffe aus dem Hinterhalt wie im Norden nicht stattfinden“, sagt Reisner (siehe 3).
Unklar ist die Rolle dreier russischer Bataillonskampfgruppen im weißrussischen Brest (siehe 4): „Sollten sich diese in Richtung Süden in Bewegung setzen, würde Panik ausbrechen“, sagt Reisner. „Sie müssten nicht einmal eine Stadt einnehmen – die bloße Nachricht würde bei den Millionen von Flüchtlingen im Westen der Ukraine für starke Verunsicherung sorgen.“ Zudem müssten die ukrainischen Streitkräfte sich auf eine weitere Front konzentrieren.
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