Tote durch Angriff in Kiew und Raketentrümmer in Donezk
Am 19. Kriegstag in der Ukraine haben russische Truppen ihre Angriffe auf die Hauptstadt Kiew verstärkt. Mindestens zwei Menschen wurden nach ukrainischen Angaben in einem Hochhaus in Kiew getötet, ein international bekanntes Flugzeugwerk wurde beschossen. In der ostukrainischen Großstadt Donezk sind nach Angaben der prorussischen Separatisten mindestens 20 Menschen durch Trümmer einer ukrainischen Rakete getötet worden. Kiew dementiert.
Das russische Verteidigungsministerium teilte am Montag mit, 28 weitere Zivilisten seien in Donezk schwer verletzt worden. Unter den Opfern seien Kinder. Von den Separatisten hieß es, die Rakete vom Typ Totschka-U (NATO-Code: SS-21 Scarab) sei über Donezk abgefangen worden, Teile seien aber dennoch im Stadtzentrum niedergegangen. Sowohl das Ministerium als auch Separatistenführer Denis Puschilin beschuldigten die Ukraine, es habe sich um einen Angriff mit einer verbotenen Streubombe gehandelt, die noch in der Luft über dem Ziel eine Vielzahl kleiner Sprengkörper freisetzt. Das sei ein Kriegsverbrechen, sagte Puschilin, der Chef der selbst ernannten "Volksrepublik Donezk".
In Moskau warf Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow den ukrainischen Kräften vor, sie hätten möglichst viele Zivilisten töten wollen. "Dies zeigt einmal mehr die nazistische und antimenschliche Einstellung des regierenden Regimes in der Ukraine", sagte Konaschenkow. Bereits vor einigen Tagen hatte die NATO ihrerseits Russland vorgeworfen, im Krieg auch Streumunition einzusetzen.
Die Ukraine weist den Vorwurf zurück. "Es handelt sich eindeutig um eine russische Rakete oder eine andere Munition", sagte ein ukrainischer Militärsprecher. "Es ist sinnlos, überhaupt darüber zu reden."
Hochhaus in Kiew getroffen
In Kiew wurden am Montag die vor allem für ihre Frachtmaschinen bekannten Antonow-Flugzeugwerke beschossen, wie die Stadtverwaltung mitteilte. Zunächst war unklar, ob es Verletzte und Tote gab. Im Norden der ukrainischen Hauptstadt kamen dem ukrainischen Fernsehen zufolge mindestens zwei Menschen bei einem Angriff auf ein Hochhaus ums Leben. Der Zivilschutz teilte zunächst mit, 63 Menschen seien evakuiert worden. Das Haus sei von einem Artilleriegeschoß getroffen worden. Heftige Gefechte gibt es nördlich und östlich von Kiew.
Nach einem Bombenangriff auf eine Pumpstation in der nordukrainischen Stadt Tschernihiw fiel nach Betreiberangaben die Trinkwasserversorgung aus. Vier Menschen seien auf dem Gelände der Anlage getötet worden, teilte der ukrainische Verband der Wasserversorgungs- und Kanalisationsunternehmen am Montag mit. Auf Fotos waren etwa Schäden an einem unterirdischen Wasserbecken zu sehen. Es werde alles unternommen, um die Stadt mit 300.000 Einwohnern wieder mit Wasser zu versorgen, hieß es.
Zehn Fluchtkorridore vereinbart
Die Krim und der Donbass sollen indes mittlerweile durch einen Landkorridor verbunden sein. "Die Autostraße von der Krim bis Mariupol wurde unter Kontrolle genommen", zitiert die russische staatliche Agentur Ria Nowosti am Montag den Vize-Ministerpräsidenten der Regierung der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim, Georgi Muradow. Muradow zufolge könne dies dabei helfen, Menschen in der Region Donezk mit humanitären Gütern zu versorgen.
Für Montag sind nach Angaben der ukrainischen Regierung zehn Fluchtkorridore vereinbart worden. Diese betreffen Städte in der Nähe der Hauptstadt Kiew und in der Region Luhansk im Osten, durch die Zivilisten unter Beschuss liegende Orte verlassen können. Es werde zudem erneut versucht, Hilfskonvois mit Lebensmitteln und Medikamenten von Berdjansk im Südosten der Ukraine in das eingekesselte Mariupol hineinzubringen, sagte Vize-Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk in einer Video-Botschaft.
Russen drängen in der Ostukraine vor
In der Region Luhansk treffen prorussische Rebellen nach Moskauer Angaben indes weiter auf starken Widerstand ukrainischer Truppen. Im Nordosten der Großstadt Sjewjerodonezk liefen Kämpfe gegen "Nationalisten", sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, am Montag in seinem Morgenbriefing. In der Stadt leben etwa 100.000 Menschen. Die russische Armee drang nach Darstellung von Konaschenkow indes weitere elf Kilometer in der Ostukraine vor.
Die Zahl der seit Kriegsbeginn am 24. Februar zerstörten Militärobjekte liegt demnach inzwischen bei rund 4.000 - darunter mehr als 1.200 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte seinen Einmarsch in die Ukraine auch damit begründet, dass er das vom Westen mit Waffen ausgerüstete Land "entmilitarisieren" wolle.
Menschen aus den Orten an der Front würden in Sicherheit gebracht, bestätigte der Gouverneur der Region Kiew, Olexij Kuleba, in einem Fernsehinterview. "Die Feuerpause in unserer Region hält, wenn auch nur bedingt." Gelegentlich seien in der Nähe Explosionen zu hören, fügt der Gouverneur hinzu. Nach mehreren gescheiterten Evakuierungsversuchen ist offenbar den ersten Zivilisten die Flucht aus Mariupol gelungen. Bereits mehr als 160 Privatautos hätten die Stadt am Montag in Richtung der mehr als 70 Kilometer westlich gelegenen Stadt Berdjansk verlassen, teilte der Stadtrat von Mariupol am frühen Nachmittag auf Telegram mit. Ein Konvoi mit Hilfsgütern sei hingegen noch in Richtung Mariupol unterwegs.
Eroberung großer Städte möglich
In der unter russischem Beschuss liegenden Hafenstadt Mariupol sind nach ukrainischen Angaben bisher mehr als 2.500 Bewohner getötet worden. Das teilt der Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, Olexii Arestowytsch, in einem Fernsehinterview mit. Er beziehe sich auf Angaben der Stadtverwaltung von Mariupol, sagt Arestowytsch.
Das ukrainische Außenministerium teilte mit, dass eine schwangere Frau und ihr ungeborenes Kind gestorben sind. Das Foto, das zeigt, wie Männer die Schwangere auf einer Trage durch den zerstörten Komplex der Geburtsklinik von Mariupol tragen, hatte weltweit für Aufsehen gesorgt.
Das russische Militär könnte nach Angaben der Regierung in Moskau die volle Kontrolle über ukrainische Großstädte übernehmen. Das russische Verteidigungsministerium gewährleiste zwar die größtmögliche Sicherheit der Zivilbevölkerung, erklärte der Sprecher des russischen Präsidialamts, Dmitri Peskow, am Montag. Es "schließt jedoch die Möglichkeit nicht aus, größere Bevölkerungszentren vollständig unter (seine) Kontrolle zu bringen". Präsident Wladimir Putin habe am Anfang des Militäreinsatzes das Verteidigungsministerium ausdrücklich angewiesen, auf die Erstürmung von größeren Städten wie Kiew zu verzichten. Er sei davon ausgegangen, dass die Ukrainer die Bürger als menschliche Schutzschilde missbrauchen würden.
Nicht alles nach Wunsch verlaufen
Peskow wies zudem die Darstellung der USA und die EU zurück, Putin sei über die militärischen Fortschritte in der Ukraine enttäuscht. "Alle Pläne der russischen Führung werden pünktlich und vollständig umgesetzt." Russland spricht nicht von einem Krieg in der Ukraine, sondern von einem militärischen Sondereinsatz.
Davor hatte erstmals ein ranghoher Beamter aus Putins Sicherheitsapparat eingeräumt, dass Russland nicht so vorankomme wie geplant. Der Chef der russischen Nationalgarde, Viktor Solotow, sagte: "Ich möchte sagen, dass, ja, nicht alles so schnell läuft, wie man sich das wünschen würde." Er sprach davon, dass sich "Nazisten" in der Region hinter friedlichen Bürgern, darunter Frauen und Kindern, in Schulen, Kindergärten und Wohnhäusern verstecken würden. Zugleich meinte Solotow, dass die russische Armee siegen werde.
Tschetschenen-Anführer Kadyrow in der Ukraine
Der tschetschenische Republikchef Ramsan Kadyrow hat derweil behauptet, sich in der Ukraine aufzuhalten. Über ein in der Nacht zu Montag auf seinem Telegram-Kanal geteiltes Video schreibt er, dieses sei in Hostomel aufgenommen worden, einem Ort nordwestlich der Hauptstadt Kiew mit einem nahen Flugplatz, der seit Beginn des Krieges in der Ukraine umkämpft ist.
Auf dem Video, das nicht unabhängig verifiziert werden kann, sind mehrere Männer in militärischer Kleidung mit Waffen und Kadyrow zu sehen, wie sie einen unkenntlich gemachten Plan auf einem Tisch studieren.
"Neulich waren wir etwa 20 Kilometer von Ihnen entfernt, Kiewer Nazis, und jetzt sind wir noch näher, und raten Sie mal, wie nahe wir gekommen sind", schreibt Kadyrow weiter. "Ich werde eine Intrige hinzufügen: Vielleicht sind wir bereits in Kiew und warten nur auf die nötigen Befehle?" Zudem behauptet er, "nicht wenige" Mitarbeiter des ukrainischen Geheimdienstes arbeiteten für Russland.
Weiter droht Kadyrow in dem Telegram-Posting der Kiewer Führung und ruft sie auf, die Seite zu wechseln. "Ihr könnt Euch eine Minute entspannen, denn ihr müsst uns nicht suchen - wir finden Euch selber", schreibt der Chef der Nordkaukasus-Republik Tschetschenien weiter. "Oh, lange habt ihr nicht mehr. Besser, ihr ergebt euch und stellt euch neben uns, wie ich schon mehrmals vorgeschlagen habe, oder Euer Ende steht bevor."
636 zivile Todesopfer
Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte dokumentierte seit dem Einmarsch russischer Truppen am 24. Februar den Tod von 636 Zivilpersonen in der Ukraine. Unter ihnen waren 46 Kinder und Jugendliche, wie das Büro am Montag in Genf mitteilte. Am Vortag waren es noch insgesamt 596 Tote. Dem Büro lagen zudem verifizierte Informationen über 1.125 Verletzte vor. Am Vortag waren es 1.067.
"Die meisten Opfer unter der Zivilbevölkerung wurden durch den Einsatz von Explosivwaffen mit großer Reichweite verursacht, darunter durch den Beschuss mit schwerer Artillerie und mit Raketenwerfern sowie durch Raketen- und Luftangriffe", teilte das Büro der UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, mit.
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