Gericht: Britisches Parlament darf bei Brexit mitbestimmen

London
Ein Londoner Gericht gibt einer Klage gegen den Alleingang der Regierung nach dem Brexit-Votum statt. Die britische Regierung will das Urteil anfechten.

Der Londoner High Court gab Donnerstagvormittag einer Klage gegen einen Alleingang der britischen Regierung beim Brexit statt. Die britische Premierministerin Theresa May hatte es zuvor abgelehnt, die Parlamentarier über einen Ausstieg aus der EU abstimmen zu lassen. Der Brexit-Vorgang wird damit jedenfalls verlangsamt und eine Aktivierung des Artikels 50 des Lissaboner Vertrags, in dem der Austritt eines Mitgliedslandes geregelt wird, zumindest für März unwahrscheinlich. May hatte zuvor eine baldige Aktivierung angekündigt.

Die britische Regierung hat bereits angekündigt, dass sie das Urteil anfechten wird. Die britische Politologin Melanie Sully, Direktorin des in Wien ansässigen Instituts für Go-Governance, hält das im Gespräch mit kurier.at für eine schlechte Idee. Eine neuerliche Abfuhr im Dezember - diesmal beim Obersten Gericht - wäre eine "Blamage". May sollte das Urteil akzeptieren, sagt Sully.

Verzögerung in den Herbst 2017

Sie rechnet mit einer Verzögerung von Artikel 50 bis in den Herbst 2017. Das britische Parlament werde, wenn kein Stopp vom Obersten Gerichtshof kommt, demnach wohl bis dahin abwarten. Vor der Bundestagswahl in Deutschland sei die Reaktion der EU auf anstehende Brexit-Verhandlungen nicht vorhersehbar, lautet Sullys Einschätzung und spielt damit auf Deutschlands gewichtige Rolle in der Europäischen Union an. Vor der Aktivierung des Austrittsparagrafen müssten die Möglichkeiten für einen "soft brexit" geklärt werden. Laut Sully habe das Parlament das Recht, den Brexit zu kontrollieren, d.h. Inhalt, Zeitpunkt und Strategie mitzubestimmen.

Die Briten votierten im Juni in einem Referendum für den Brexit. May will den Antrag bei der EU bis Ende März 2017 stellen. Der Zeitplan für den Austrittsprozess könnte nun durcheinandergeraten. Auch eine Mehrheit im Parlament für den Brexit gilt nicht als sicher.

Die Kläger

Unter anderem Investmentfondsmanagerin Gina Miller und ein Friseur hatten geklagt, weil die Regierung ihrer Ansicht nach nicht im Alleingang Artikel 50 der EU-Verfassung aktivieren kann, ohne dass das Parlament in London zuvor darüber debattiert und abstimmt. Die Kläger argumentieren, dass das Ergebnis des Referendums über den EU-Austritt rechtlich nicht bindend sei. Daher müsse sich vorher noch das Parlament damit befassen. PremierministerinTheresa Mayist da anderer Meinung. Sie hatte angekündigt, bis Ende März kommenden Jahres einen formellen Austrittsantrag in Brüssel zu stellen. Das wird sich nun zumindest verzögern.

May: Klage gegen Volkswillen

Gericht: Britisches Parlament darf bei Brexit mitbestimmen
British Prime Minister Theresa May (L) leaves 10 Downing Street in London on November 2, 2016, ahead of the weekly Prime Minister's Questions (PMQs) in the House of Commons. / AFP PHOTO / Daniel Leal-Olivas
May hatte den Beschwerdeführern vorgeworfen, den im EU-Austrittsreferendum geäußerten Volkswillen unterlaufen zu wollen. Die Kläger betonten, ihnen gehe es um die parlamentarische Souveränität.

Pfund steigt

Die Hoffnung auf Änderungen beim geplanten EU-Austritt der Briten hat jedenfalls das Pfund Sterling erstmals seit drei Wochen über 1,24 Dollar (1,12 Euro) getrieben. Die britische Währung kletterte am Donnerstag um bis zu 1,2 Prozent auf 1,2448 Dollar.

Reaktionen im In- und Ausland

Die EU-Kommission will die jüngste Entwicklung rund um den Brexit nicht kommentieren.

Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, die Grüne Ulrike Lunacek, begrüßte das Gerichtsurteil. "Damit ist nicht nur der Brexit-Zeitplan infrage gestellt, sondern die Brexit-Karten werden völlig neu gemischt", erklärte sie. "Sollte diese Entscheidung vom Obersten Gerichtshof bestätigt werden, dann bekommt das britische Parlament einen mächtigen Hebel in die Hand gegeben: Das Parlament - nicht die Regierung - ist in einer Demokratie der legitime Ort, wo eine derart wichtige Frage wie der Brexit debattiert und abgestimmt gehört."

Auch die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon zeigte sich erfreut. "Wirklich bedeutungsvoll!", schrieb sie auf Twitter mit einem Hinweis auf das Urteil. Die Wähler in Schottland hatten sich mehrheitlich gegen einen Brexit ausgesprochen.

Auch aus Mays konservativer Fraktion fordern viele Abgeordnete eine Mitsprache über die Verhandlungsstrategie der Regierung. Das lehnte May bisher mit dem Argument ab, eine öffentliche Debatte im Parlament über die Brexit-Strategie der Regierung schade deren Verhandlungsposition. Es werde "keine laufenden Kommentare" zum Prozess der Brexit-Verhandlungen geben.

In Artikel 50 des EU-Vertrags von Lissabon ist geregelt, wie der Austritt eines Mitgliedslandes aus der Europäischen Union abläuft. Demnach muss die britische Regierung Brüssel zuerst formell über ihre Absicht in Kenntnis setzen, bevor die Verhandlungen über einen Austritt beginnen können. Die Austrittsverhandlungen müssen nach spätestens zwei Jahren abgeschlossen sein. Andernfalls würde Großbritannien automatisch aus der EU ausscheiden.

Die EU begibt sich mit dem britischen Austritt auf unbekanntes Terrain. Der Artikel 50 gibt zwar den Rahmen der Verhandlungen vor, regelt aber nicht alle Einzelheiten. Am 3. Februar wollen die Spitzen der 27 verbleibenden EU-Staaten auf Malta beraten, wie sie weiter vorgehen und die Union ohne die Briten gestalten wollen. Doch formal können sie die Leitlinien für die Verhandlungen erst nach der offiziellen Information über die Austrittsabsicht durch London festlegen.

Die EU-Kommission oder ein von den Staaten ernanntes Gremium könnte dann mit London die Einzelheiten des Austritts und den Rahmen für die künftigen Beziehungen Großbritanniens zur Union aushandeln. Brexit-Unterhändler der EU ist der als Bankenregulierer profilierte französische EU-Kommissar und ehemalige Minister Michel Barnier. Für den Ministerrat - also die EU-Staaten - soll der belgische Topdiplomat Didier Seeuws die Gespräche leiten. Für das Europaparlament soll der Chef der liberalen Fraktion, Guy Verhofstadt, die Gespräche verfolgen.

Das Austrittsabkommen muss am Ende mit einer qualifizierten Mehrheit der verbliebenen 27 Mitgliedstaaten beschlossen werden - von mindestens 72 Prozent der Staaten, die wiederum 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren müssen. Auch das EU-Parlament muss zustimmen. Nach Angaben der EU-Kommission reicht dafür eine einfache Mehrheit.

Wenn kein Abkommen zustande kommt und keine Fristverlängerung gewährt wird, würde Großbritannien zwei Jahre nach dem Einreichen des Austrittsgesuchs ungeregelt aus der EU ausscheiden. Das wird allerdings wegen der für beide Seiten großen Risiken für äußerst unwahrscheinlich gehalten.

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