Europa und die Türkei: Ziemlich beste Nicht-Freunde
Noch ankert die „Oruc Reis“ vor Antalya. Doch allein die Ankündigung, dass das türkische Forschungs- und Explorationsschiff dieser Tage Kurs Richtung Ostägäis nehmen werde, sorgt in Griechenland für Empörung. Die griechische Marine schickte Schiffe Richtung Kreta und Rhodos los, die türkische Kriegsmarine orderte ebenfalls Schiffe ins östliche Mittelmeer. Die Spannungen zwischen den Nachbarn steuern auf einen neuen Höhepunkt zu, die Gefahr einer Eskalation wächst – mit involviert ist die ganze Europäische Union.
Grund für die jüngste Krise: Die Türkei will in einem Seegebiet Gasprobebohrungen vornehmen, das Griechenland als sein Hoheitsgebiet beansprucht. Die EU steht zu ihrem Mitglied Griechenland und warnt die Führung in Ankara: Die Bohrungen seien illegal.
Bohrungen vor Zypern
Dasselbe Bild bietet sich in Zypern. An den riesigen Gasfeldern vor der Küste der Insel will die Türkei teilhaben. Aber weil Griechenland, Zypern, Israel und Ägypten Konsortien bildeten, die Lizenzen untereinander aufteilen und die Türkei dabei draußen ließen, traf Ankara kurzerhand die Entscheidung: Gebohrt wird trotzdem. „Wir sind vor Ort, um unsere Rechte zu schützen“, beharrt Präsident Erdoğans Berater Ibrahim Kalim auf weiteren Bohrungen.
Mantraartig hört man in Brüssel: Wenn die illegalen Erdgas-Erkundungen der Türkei nicht aufhörten, drohen Sanktionen. Doch trotz der verschärften Tonart in Richtung Ankara blieben die Maßnahmen bisher zahnlos: Gegen gerade einmal zwei Personen in der Türkei hat die EU Sanktionen erhoben.
Entsprechend unbeeindruckt lässt Präsident Erdoğan die Bohrungen vorantreiben – und setzt auf die Serie von Provokationen gegen die EU immer noch neue drauf. Ob die Hagia Sophia von einem Museum zu einer Moschee umgewandelt wird; ob er mit militärischen Mitteln in Libyen eine ihm gefügsame Führung erkämpft; ob er in Syrien einmarschieren lässt und dort Hunderttausende in die Flucht zwingt – Erdoğan weiß: Von Brüssel hat er keine ernsthaften Strafmaßnahmen zu befürchten.
Seine breitestes Verteidigungsschild gegen mögliche EU-Sanktionen ist der Flüchtlingsdeal: Droht Brüssel mit Strafen, kann Erdoğan jederzeit zurückdrohen: Er könne ja die Grenzen aufmachen und Millionen Flüchtlinge nach Europa schicken, deutet der Präsident immer wieder an. Und auch wenn europäische Politiker schimpfen, man dürfe sich von der Türkei „nicht erpressen“ lassen, so wissen doch alle: Der Flüchtlingsdeal muss unbedingt erhalten bleiben – und damit hat Erdoğan seinen Hebel.
Dazu kommt: Gegenüber der Türkei ziehen nicht alle EU-Staaten an einem Strang. Eine gemeinsame Türkei-Strategie der EU gibt es nicht. Worauf sich bisher alle einigen konnten, ist, die „Dialogkanäle offen zu halten“. Das bedeutet, dass auch die eingefrorenen EU-Beitrittsverhandlungen zwischen EU und der Türkei nicht endgültig gestoppt werden, wie Österreich das seit Jahren fordert.
Vergiftete Beziehungen
In der Geschichte der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei liegt auch die Quelle der seit eineinhalb Jahrzehnten gespannten, immer mehr vergifteten Beziehungen zwischen der Türkei und Österreich. Dabei waren das, von den Türkenbelagerungen abgesehen, immer gute. Zwischen der ersten und zweiten Türkenbelagerung nahmen Österreich und das Osmanische Reich sogar diplomatische Beziehungen auf, im Ersten Weltkrieg waren Österreich-Ungarn und die Osmanen Verbündete.
1987 beantragte die Türkei die EU-Mitgliedschaft – der Beginn eines langen und immer unehrlichen Hinhaltens seitens der Union, in der die umstritteneFrage, ob die Türkei zu Europa gehört, nie ausdiskutiert wurde. Aber als 1999 der Türkei der Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt wurde, wurde das von Österreich begrüßt (inklusive der FPÖ des Jörg Haider).
Fünf Jahre später beschloss die EU den Beginn von Beitrittsgesprächen. Wien bremste insofern, als Bundeskanzler Wolfgang Schüssel einen allfälligen Beitritt mit einer Volksabstimmung in Österreich verknüpfte. Außenministerin Ursula Plassnik setzte durch: Beitrittsgespräche nur „ergebnisoffen“.
„Das hat die Türkei gar nicht gefreut“, erinnert sich Marius Caligaris, damals Österreichs Botschafter in Ankara. Plassnik wurde auf Titelseiten als „1.90 Meter großer blonder Trotz“ abgebildet (Jahre später verhinderte die Türkei durch Veto ihre Wahl zur OSZE-Vorsitzenden).
2014 warf Außenminister Sebastian Kurz der Türkei erstmals vor, in Österreich für „Unruhe“ zu sorgen (Anlass: Wahlkampfauftritt Präsident Erdoğans in Wien – in Österreich leben 300.000 Menschen türkischer Abstammung). 2015 verurteilten alle Parlamentsparteien den Genozid an den Armeniern 1915 – ab da waren die Beziehungen „dauerhaft beschädigt“, wie Ankara über seinen Botschafter wissen ließ.
„Freundlichkeiten“
Nach türkischen Pro-Erdoğan-Demos in Wien empfahl Kurz den Demonstranten, Österreich zu verlassen, später schlugen der damalige Kanzler Christian Kern und Kurz ein Ende der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei vor. Die wechselseitigen „Freundlichkeiten“ (Rauswurf österreichischer Forscher aus Ephesos etc.) rissen seither nicht ab.
Dass Österreich seit 15 Jahren skeptisch gegenüber einem EU-Beitritt der Türkei ist, hat für Caligaris auch „starke innenpolitisch Komponenten – wie in allen Ländern die Außen- von der Innenpolitik bestimmt ist“. Dass das angespannte Verhältnis auf die Türkenbelagerung oder den Rauswurf der Osmanen zurückgehe „und die Türken deshalb bös’“ seien, ist für Caligaris jedenfalls ein „totales Hirngespinst“.
Schließlich hält es die türkische Botschaft in Wien just in der Prinz Eugen-Straße ja auch gut aus.
Land und Leute: Die Türkei ist mit rund 780.000 mehr als doppelt so groß wie Deutschland. Die Einwohnerzahl liegt bei knapp 85 Mio. 24 Prozent sind unter 15 Jahre. In der EU liegt dieser Wert bei 15 Prozent
640 Milliarden: Die Türkei erwirtschaftete im Vorjahr ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der Höhe von 640,9 Milliarden Euro. Damit liegt es um gut 50 Prozent über dem österreichischen. Beim BIP pro Kopf hat aber Österreich weit die Nase vorne: Knapp 45.000 Euro zu knapp 9.000 Euro
Von EU abhängig: Für die Türkei ist die EU ein unverzichtbarer Handelspartner: Von den Gesamtausfuhren 2019 (155 Mrd. Euro) ging fast die Hälfte (76 Mrd. Euro) in Unionsländer. Und von den Gesamtimporten (180 Mrd. Euro) stammt ein Drittel (62 Mrd. Euro) aus der EU. Das Handelsvolumen der EU mit der Türkei liegt dagegen bloß bei rund fünf Prozent
Währungsverfall: Wegen politischer und ökonomischer Turbulenzen ist die Lira im freien Fall. Für einen Euro bekommt man rund acht Lira. Vor einigen Jahren lag das Verhältnis bei 1:2
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