Offene Grenze für Flüchtlinge: Das Ende des EU-Türkei-Deals?
Türkische TV-Sender zeigen Flüchtlinge und Migranten, die sich in Autos, Bussen und zu Fuß in Richtung Grenze oder Küste aufmachen. Ihr Ziel demnach: Europa. Ein Phänomen, das man 2016 mit dem EU-Türkei-Deal unterbinden wollte - zunächst erfolgreich.
Die Türkei hat mittlerweile Berichte zurückgewiesen, dass sie die Grenzen Richtung Europa geöffnet habe. "In der Flüchtlings- und Migrationspolitik unseres Landes, das die meisten Flüchtlinge in der Welt aufgenommen hat, gibt es keine Änderung", hieß es in einer am Freitag veröffentlichten Stellungnahme des Außenministeriumssprechers Hami Aksoy.
Ministeriumssprecher Aksoy warnte aber, dass die Migrationsbewegungen in der Türkei Richtung Außengrenzen "im Falle einer Verschlechterung der Situation" stetig zunehmen könnten.
Offene Grenze für Flüchtlinge: Das Ende des EU-Türkei-Deals?
Schon in den vergangenen Monaten sind die Flüchtlingsankünfte auf den griechischen Inseln gestiegen. Aufgrund der Eskalation im Syrien-Krieg im nordsyrischen Idlib und der unerträglichen Situation der Hunderttausenden Flüchtlinge, die bis zuletzt vor der türkischen Grenze festsaßen, war der weitere Anstieg absehbar.
Schon bald nach dem Abschluss des Deals war Kritik aufgekommen. Zwar hat die Zahl der Flüchtlinge, die über die Ägäis kommen, in den folgenden Jahren stark abgenommen. Doch die Türkei nehme nicht alle Flüchtlinge zurück, außerdem seien trotz des Abkommens weiterhin Migranten aus der Türkei auf den griechischen Inseln angekommen. Auf der anderen Seite meldete Ankara die mangelhafte Zahlung der Gelder aus Brüssel.
Neben den finanziellen seien auch weitere Vereinbarungen nicht eingehalten worden, kritisierte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu Ende Jänner. Es habe keine Erweiterung der Zollunion und auch kein neues Kapitel der EU-Beitrittsverhandlungen gegeben.
Mehrmals hat Erdogan in den vergangenen Monaten damit gedroht, die Grenzen nach Europa zu öffnen. Beobachter werteten das vor allem als politisches Druckmittel. Politiker, darunter Bundeskanzler Sebastian Kurz, warnten, die EU sollte sich gegenüber der Türkei nicht erpressbar machen.
Bei einem Treffen zwischen der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vor wenigen Wochen haben sich allerdings beide Seiten ausdrücklich für die Weiterführung des Abkommens ausgesprochen, das mit dem heurigen Jahr auslaufen würde. Es gebe keine Alternative, heißt es dazu oft aus der EU.
"Das Abkommen wurde aufgekündigt"
Auch wenn die türkische Regierung die Öffnung der Grenzen dementiert, de facto werden Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa offenbar nicht mehr aufgehalten, "laut kritischen Stimmen werden die Menschen sogar ermutigt", sagt Cengiz Günay vom Institut für Internationale Politik (oiip) in Wien zum KURIER.
Damit habe die Türkei das Abkommen so gut wie aufgekündigt. So interpretiert das der Türkei-Experte.
Flüchtlinge auf dem Weg zur Türkisch-Griechischen Grenze
Dazu muss man die Situation der Flüchtlinge in der Türkei verstehen. Diese hat sich in den vergangenen Monaten verschärft. Mittlerweile seien fast vier Millionen Flüchtlinge in dem Land.
Lange Zeit seien die Syrer weitgehend toleriert worden, mittlerweile sei die Stimmung in der Bevölkerung aber gekippt, berichtet Günay. Zu den Syrern seien wegen Erdogans "Politik der offenen Türen" auch Migranten aus anderen Ländern, etwa Afghanistan und dem Iran gekommen.
Das Land stecke in einer tiefen Wirtschaftskrise, so Günay, die Arbeitslosenzahlen steigen massiv, vor allem unter Jugendlichen. Eine Besserung ist nicht in Sicht. "Die Unzufriedenheit steigt rasant - und damit auch die Ressentiments gegen Ausländer."
"Erdogan will Europäer ins Boot holen"
Vor dem Hintergrund der innertürkischen Situation kann man auch Erdogans Kalkül sehen: "Er will die westlichen Partner ins Boot holen", sagt Günay. Deshalb habe Erdogan auch die NATO auf den Plan gerufen. "Er will den Europäern zeigen, dass die Situation in Syrien auch sie betrifft." Zu lange hätte sich der Westen aus türkischer Sicht aus dem Krieg in Syrien herausgehalten.
Flüchtlinge seien dabei ein "Teil des geopolitischen Schachspiels" geworden, sagt Günay. "Da hat sich Europa selbst hineinmanövriert", weil es in Syrien zu lange weggeschaut habe, aber auch jene Länder, die die meiste Last der Flüchtlinge auszuhalten haben, nicht ausreichend unterstützt hat.
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