Erdogan droht wieder mit offenen Grenzen: "Da hat sich Europa selbst hineinmanövriert"

Erdogan droht wieder mit offenen Grenzen: "Da hat sich Europa selbst hineinmanövriert"
Flüchtlinge auf dem Weg zur EU-Grenze - Ankara droht, aber Brüssel beharrt: alles im grünen Bereich. Hält der EU-Türkei-Flüchtlingsdeal noch?

Die Warnung kam nur wenige Stunden, nachdem 33 türkische Soldaten in der Nacht auf Freitag bei einem Luftangriff in Syrien um Leben gekommen waren. „Unsere Flüchtlingspolitik bleibt unverändert, aber die Lage ändert sich“, sagte der Chefsprecher des türkischen Präsidenten Erdogan, Ömer Celik.

Und genau wissend, dass dies in Europa immer alle Alarmglocken zum Läuten bringt, setzte er nach: „Wir sind nicht in der Lage, die Flüchtlinge weiter zurückzuhalten.“ Zur Untermauern seiner Drohungen lieferten türkische Fernsehstationen sofort Bilder von rund 300 Flüchtlingen, die sich Richtung bulgarische Grenze aufmachten.

Erinnerungen an 2015 werden wach: Machen sich wieder Hunderttausende Menschen auf den Weg nach Europa? Brechen die Dämme des vor vier Jahren zwischen EU und Türkei geschlossenen Flüchtlingsabkommens?

Offene Grenze für Flüchtlinge: Das Ende des EU-Türkei-Deals?

Auch wenn die türkische Regierung die Öffnung der Grenzen dementiert, de facto würden Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa offenbar nicht mehr aufgehalten, sagt Cengiz Günay vom Institut für Internationale Politik (oiip) in Wien zum KURIER. Damit habe die Türkei das Abkommen so gut wie aufgekündigt, interpretiert der Türkei-Experte das Vorgehen Ankaras.

Brüssel beruhigt

In Brüssel aber bleibt man gelassen: „Es ist nicht das erste Mal, dass Erdogan auf diese Weise droht“, heißt es von Seiten der EU-Kommission auf KURIER-Anfrage. Nach eigener Bewertung der Lage gebe es „keine signifikanten Flüchtlingsbewegungen“, bestätigte denn auch ein Sprecher der Kommission. Und überhaupt: Eine offizielle Ankündigung Ankaras, dass der Flüchtlingsdeal aufgekündigt werde, gebe es nicht.

Erdogan droht wieder mit offenen Grenzen: "Da hat sich Europa selbst hineinmanövriert"

Die EU steht weiter auf dem Standpunkt: Der Deal mit Ankara hält. Von den versprochenen sechs Milliarden Euro zur Unterstützung der 3,5 Millionen registrierten syrischen Flüchtlinge wurden bisher 4,7 Milliarden ausbezahlt. Ursprünglich hätte das Abkommen Ende 2020 auslaufen sollen. Doch weil die Flüchtlinge in der Türkei weiter versorgt werden müssen, wird auch im nächsten Jahr Geld von Brüssel in die Lager der Türkei fließen.

Erdogans Kalkül

Türkei-Experte Günay glaubt: Mit den immer wieder kehrenden Drohungen, den Flüchtlingen die Grenzen nach Europa zu öffnen, verfolgt der türkische Präsident ein klares Kalkül: „Er will die westlichen Partner ins Boot holen. Er will den Europäern zeigen, dass die Situation in Syrien auch sie betrifft.“ Flüchtlinge seien ein „Teil des geopolitischen Schachspiels“ geworden, sagt Günay. „Da hat sich Europa selbst hineinmanövriert“, weil die EU in Syrien zu lange weggeschaut habe, aber auch jene Länder, die die meiste Last der Flüchtlinge auszuhalten haben, nicht ausreichend unterstützt.

Erdogan droht wieder mit offenen Grenzen: "Da hat sich Europa selbst hineinmanövriert"

Größtes Lager Europas

Das schlimmste Beispiel dafür: die griechischen Inseln. „36.000 Asylsuchende müssen auf Plätzen ausharren, die für maximal 6.000 Personen gedacht waren“, schildert ein Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerkes dem KURIER die zunehmend katastrophale Lage auf den Inseln Lesbos, Chios, Samos, Kos und Leros. Unter ihnen befinden sich 1.700 unbegleitete Jugendliche.

Besonders kritisch ist die Situation in Moria auf Lesbos – mit 20.000 Insassen das derzeit größte Flüchtlingslager Europas. Gebaut wurde es für 3.100 Menschen. Um Essen zu erhalten muss sich ein Familienmitglied den ganzen Tag lang in der Schlange um Nahrung anstellen.

Einen Grenzübergang zur Türkei hat Griechenland gestern geschlossen. Die Seegrenzen aber lassen sich nicht schließen. Jeden Tag kommen aufs Neue Flüchtlinge auf den Inseln an – das aber nicht erst seit der jüngsten Drohung aus Ankara, sondern bereits seit rund einem Jahr. Die griechische Regierung will nun größere Lager auf den Inseln errichten lassen – dagegen aber leisten viele Inselbewohner erbitterten Widerstand.

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