Ein Jahr Ampel in Deutschland: Mehr Halt als Fortschritt
Das Foto hätte auch das Comeback-Album einer erwachsen gewordenen Deutschpop-Band zieren können. Mit dem Zeigefinger Richtung Zukunft deutend, selbstbewusst lächelnd, Einheit schwörend. "Fortschritt", der ideale Titel.
Es war keine Musikgruppe, sondern die neue Bundesregierung, deren Foto am 7. Dezember 2021 Schlagzeilen machte, und "Fortschritt" kein Album-Titel, sondern das Motto des taufrischen Koalitionsvertrags.
Wegbereiter wollten Olaf Scholz (SPD), Robert Habeck und Annalena Baerbock (beide Grüne) und Christian Lindner (FDP) sein, für eine sozial-ökologische Zukunft. Wenige Wochen später startete Russland einen Krieg; Versprechen – wie die Abrüstung – wurden verworfen, neue Pläne – 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr – entgegen aller Ideologien geschmiedet.
Nach einem Jahr ist es Zeit für eine Bilanz: Wie hat sich die Ampel geschlagen? Wie viel Einheit und Fortschritt sind noch da? Und wer ist der Gewinner der Koalition?
Wolfgang Schroeder, Politologe der Uni Kassel, formuliert es gegenüber dem KURIER diplomatisch: "Wir leben mit unglaublichen Herausforderungen, wie sie seit 1945 keine zweite Regierung in dieser kurzen Zeit bewältigen musste. Da werden schon mal handwerkliche Fehler gemacht, im Großen und Ganzen war die Performance ganz ordentlich." Aber reicht das?
Opposition in der Koalition
Einer Umfrage der Zeit zufolge rechnen 51 Prozent der Befragten "demnächst" mit einem Crash der Regierung. Ein großer Teil der Beobachter, wie der Politologe Albrecht von Lucke in den Blättern für deutsche und internationale Politik, kritisieren, der Ampel fehle es an einer klaren, einheitlichen Position, einem Bild der Einheit.
Es ist die FDP, die die Rolle der Opposition innerhalb der Koalition einnimmt: Ob Gaspreisbremse oder Bürgergeld, Finanzminister Christian Lindner beharrt auf Stammpositionen wie Schuldenbremse und keine neuen Steuern. Doch die Zustimmung schwindet, genauso wie sein Image an Glanz verliert. Der Tiefpunkt erfolgte im Oktober, als die FDP in Niedersachsen aus dem Landtag flog. Lindner sah die Schuld bei den Bündnispartnern; man würde die FDP in der Koalition "als liberale Kraft nicht mehr erkennen und glauben, wir seien jetzt eine linke Partei."
Ob nicht vielmehr die eigene ideologische Unbeweglichkeit die Wähler vergraule, fragt Schroeder, der von 2009 bis 2014 als Staatssekretär für Arbeit und Soziales selbst in der Politik war und Mitglied der Grundwertekommission der SPD ist: "In Krisenzeiten muss man seine Position an die veränderten Umweltbedingungen anpassen. Das kann man dem Kernklientel erklären. Bei der FDP sehe ich keinen Mut dazu."
Im Gegensatz zu den Grünen: Robert Habeck gibt den zweifelnden Wirtschaftsminister, der zugibt, dass er die Antwort auf die großen Fragen selbst nicht wisse, dass ihn die Energiekrise in eine Zwickmühle bringe und kurzfristig kein Weg an Gas und Atomkraft vorbeiführe. Er kommt laut Umfragen bei den Deutschen besonders gut an – Fauxpas wie der AKW-Streit oder die Idee einer Gasumlage sorgten nur kurzzeitig für Beliebtheitseinbrüche.
Auch Außenministerin Annalena Baerbock ist seit Kriegsbeginn populär, preschte vor mit Besuchen in der Ukraine und ihrem Ruf nach schweren Waffen – ein starker Kontrast zur sonst pazifistischen Basis. Um ihre werteorientierte "feministische Außenpolitik" ist zwar es still geworden. Doch laut Schroeder liegt das auch daran, dass "Außenpolitik in Krisenzeiten zu einem Kanzlerthema wird".
Der geheime Gewinner
Apropos Kanzler: Was bleibt von Olaf Scholz nach einem Jahr? Viel zu lange, so der Tenor, sei der Kanzler passiv gewesen, habe die Führung nicht übernommen. Bis es zu spät war, und er sich nur mehr mit einem Machtwort Autorität verschaffen konnte. So beim Streit um die Verlängerung der AKW, beim Konflikt um eine Beteiligung des chinesischen Staatsunternehmens Cosco am Hamburger Hafen oder bei seiner umstrittenen Chinareise. Seine Alleingänge sorgten für Kritik, "doch Scholz ist nicht so leicht durch Umfragen und Stimmungen zu beeindrucken", so Schroeder. Die Bevölkerung musste das erst lernen.
Mittlerweile kommen seine Zurückhaltung besser an. Schroeder geht sogar so weit, ihn den eigentlichen "Gewinner" der bisherigen Ampel-Koalition zu nennen: "Man hat im Laufe des Jahres gesehen, Grüne und FDP sind sich in vielen Positionen zu uneins. Es braucht eine zentristische Position, und das ist Scholz. Er erlebt gerade eine Aufwertung seiner Position."
Dennoch: Würde heute gewählt, hätte die Ampel nicht genügend Stimmen für eine Wiederauflage. Einer Umfrage der ARD zufolge sind aktuell nur 30 Prozent der Bevölkerung mit den Leistungen der Koalition zufrieden. Die Ampel trifft dasselbe schwere Los wie alle Regierungswechsel im Bund vor ihr: Nach Amtsantritt geht der Rückhalt in der Bevölkerung zurück.
Doch Schroeder sieht derzeit keine Gefahr, die ein vorzeitiges Ende zur Folge hätte: "Dem Weltgeschehen geschuldet wurde aus der Fortschritts- eine Stabilitätskoalition." 1022 Tage hat die Ampel auf der Regierungsbühne noch – da sollte Zeit für Fortschritt bleiben.
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