Deutschland will sich mit wenig Pflicht zur Wehr setzen
Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Irak, Libanon, Westsahara, Südsudan, Nordatlantik – circa 2.200 Soldatinnen und Soldaten der deutschen Bundeswehr sind derzeit auf der Welt verstreut, in Auslandseinsätzen und anerkannten Missionen. Seit Russlands Angriff auf die Ukraine wird jedoch auch die eigene Landesverteidigung wieder forciert – die die Bundeswehr aktuell nicht leisten kann. Mit Verteidigungsausgaben von zuletzt 1,57 Prozent des BIPs ist die Bundesrepublik weit davon entfernt, "kriegstüchtig" zu sein. Das von der NATO vorgegebene Zwei-Prozent-Ziel soll heuer erstmals seit 30 Jahren eingehalten werden.
Zwar hat sich Deutschland, was die Aufrüstung angeht, zuletzt bewegt, etwa das mobile Flugabwehrsystem Skyranger bestellt (übrigens nach Österreich). Doch an Personal mangelt es nach wie vor: Rund 180.000 Soldatinnen und Soldaten gibt es aktuell, bis 2027 gehen 64.000 in Pension. 20.000 Neueinstellungen bräuchte es jährlich, um diese Lücke zu füllen. Und trotzdem wäre man damit von dem NATO-Ziel von über 203.000 Soldaten weit entfernt.
Am Mittwoch hat SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius nach Monaten der Debatte dann auch seine Pläne zur Aufstockung der Streitkräfte präsentiert. In aller Kürze: Es handelt sich um eine "light-light Version" der vor 13 Jahren ausgesetzten Wehrpflicht, gepaart mit einem großen Schuss Freiwilligkeit.
Was hat Pistorius genau vor? Alle männlichen 18-Jährigen sollen verpflichten werden, in einem Online-Fragebogen Auskunft über ihre Bereitschaft und Fähigkeit zum Dienst zu geben. Frauen sollen dies freiwillig tun können. Dann kommt eine Ladung zur Musterung, der Folge geleistet werden muss.
Die soll aber nicht an alle gehen. Pro Jahr sollen 400.000 junge Männer den Fragebogen ausfüllen; ein Viertel davon, so Schätzungen, dürfte Interesse bekunden. "Es sollen die ausgewählt werden, die am motiviertesten sind.
Wir wollen keinen sinnentleerten Dienst", so Pistorius. Vorgesehen sind 40.000 Kandidaten pro Jahr, die zur Musterung bestellt werden sollen.
Prämie und Zusatzangebote
Angeboten werden soll eine Grundausbildung von sechs Monaten, die aber verlängert werden kann. Bezahlt werden soll der neue Wehrdienst ähnlich wie der Freiwillige Wehrdienst, den es schon seit Jahren gibt (beginnend bei 1.500 Euro). Wer länger als nur für die sechsmonatige Grundausbildung bleibt, soll eine Prämie erhalten, laut Spiegel seien 5.000 Euro im Gespräch; zudem würden Zusatzangebote wie kostenlose Sprachkurse oder ein kostenloser Führerschein diskutiert.
2011 hat der damalige CSU-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg die Wehrpflicht nach 55 Jahren ausgesetzt. Gegen eine Wiedereinführung gab es Widerstand in der eigenen Koalition, vor allem von der eigenen Partei. Der Opposition geht der Vorschlag nicht weit genug. 181.000 Soldatinnen und Soldaten umfasst die Bundeswehr. Bis 2031 soll sie auf den Sollstand von 203.000 anwachsen, langfristig soll sie 270.000 Soldaten umfassen. Zudem ist eine Reserve von 260.000 Reservisten geplant (derzeit sind es laut Pistorius 60.000 Reservisten).
Geht es nach Pistorius, sollen die ersten Fragebögen im Laufe des kommenden Jahres rausgehen. Die Kosten für den neuen Dienst bezifferte der Verteidigungsminister für 2025 mit 1,4 Milliarden Euro, dies sei aus dem laufenden Haushalt finanzierbar.
Sein Vorhaben hat Pistorius von den Schweden kopiert, dort gilt der Wehrdienst als "Auszeichnung" – ein Wandel des gesellschaftlichen Ansehend des Wehrdienstes, so will man die Jungen locken. In den kommenden Jahren will man so die Streitkräfte auf rund 203.000, langfristig auf 270.000 Soldatinnen und Soldaten steigern.
Boris Pistorius am Mittwoch mit Kanzler Olaf Scholz in Berlin.
Die Schwierigkeiten: Aktuell gibt es bundesweit Kapazitäten für eine Ausbildung von nur 5.000 bis 7.000 Rekruten jährlich. Aktuell leisten 10.000 den Freiwilligen Wehrdienst; der Minister geht davon aus, im ersten Jahr 5.000 zusätzliche ausbilden, und diese Zahl Jahr für Jahr erhöhen zu können. Offen ist auch, wer die Musterung durchführen – auch bei der Bundeswehr herrscht ein Mangel an Ärzten. Die Kosten für den neuen Dienst bezifferte der Verteidigungsminister für 2025 mit 1,4 Milliarden Euro, dies sei aus dem laufenden Haushalt finanzierbar.
Wenig Rückendeckung in SPD
Wäre Pistorius selbst Kanzler, so Kommentatoren, er würde nicht zögern und die Wehrpflicht in abgespeckter Form wieder einführen. Doch seine eigene Partei hat sich stets gegen eine große verpflichtende Komponente gestellt, betonte die Freiwilligkeit. Kanzler Olaf Scholz (SPD) nannte die Bewältigung des Personalmangels bei der Bundeswehr zuletzt sogar eine "überschaubare" Aufgabe. Auch die Grünen haben sich skeptisch gegenüber einer "Pflicht" geäußert. Die meiste Rückendeckung aus der Ampel-Regierung kam von der FDP, der neue Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, der FDP-Politiker Marcus Faber, meinte, die Schritte, die Pistorius plane, seien "gut geeignet".
Von der Opposition gab es wiederum teils harsche Kritik. "Dafür, dass der Minister eine Wehrpflicht seit einem Dreivierteljahr ankündigt, sind die Pläne ziemlich dünn und vage", sagte die CDU-Verteidigungspolitikerin Serap Güler.
Ob durch diese Maßnahme die personelle Stärke der Bundeswehr wirklich gesteigert werden kann, bezweifeln Beobachter. Es handle sich um eine pragmatische "Kompromiss-Lösung", die langfristig vielleicht Erfolg haben könnte, in der aktuellen Dringlichkeit aber zu kurz greife. Die Augsburger Allgemeine resümiert treffend: "Gegen eine Koalition, die das eher skeptisch sieht, und einen Regierungschef, der ihn auf Abstand hält, ist allerdings auch der ambitionierteste Verteidigungsminister machtlos."
Auch ein Blick auf das Jahr 2022 zeigt, dass auch der Krieg in der Ukraine die Freiwilligkeit, zur Bundeswehr zu gehen, schmälerte: Damals sind mehr als 19.500 Soldaten aus der Bundeswehr ausgeschieden, mehr als 4.200 Soldaten beendeten ihren Dienst sogar vorzeitig. Damit sind mehr Soldaten aus dem militärischen Dienst ausgeschieden als neue dazugekommen.
Kommentare