China und das Coronavirus: Land der mysteriösen Megacitys
Seit Wochen lesen wir es überall: „Chinesische Millionenstädte“ sind wegen des Coronavirus in Alarmstimmung, in schierer Panik, ja sogar unter Quarantäne. Im Fernsehen tragen chinesische Patienten Gesichtsmasken, Ärzte hüllen sich in Schutzanzüge. Wir erleben die Bürger von Wuhan und anderer Großstädte im Ausnahmezustand. Aber: Kaum jemand in Europa kennt diese Städte im Normalzustand; über das China abseits der Metropolen Peking und Schanghai weiß man so gut wie nichts.
In China leben 1,4 Milliarden Menschen, das Land zählt mindestens 89 Millionenstädte. Eins vorweg: Von der musealen Lieblichkeit vieler europäischer Hauptstädte haben sie in der Regel nichts. „Sie sind so etwas wie übergroße, gleichsam aufgeblasene Kleinstädte“, sagt der China-Experte Klaus Mühlhahn von der Freien Universität Berlin. „Sie haben trotz ihrer Größe etwas Provinzielles.“
Arbeiten und schlafen
Oft besteht das Stadtzentrum aus dem Bahnhof, umsäumt von einem kommerziellen Kern aus Restaurants und Hotels. In den äußeren Bezirken ragen dann die Wohntürme, meist schmucklose Plattenbauten, gerne 15 oder 20 Stockwerke hoch in den Himmel. Der deutsche Professor Mühlhahn hat bei seinen China-Reisen eine Gesichtslosigkeit und Austauschbarkeit dieser kleinen und mittleren Millionencitys festgestellt: „Eine chinesische Stadt im subtropischen Raum und eine im Norden unterscheiden sich fast nur dadurch, dass die südliche ein bisschen mehr Grün im Stadtbild hat.“
Es sind Städte zum Arbeiten, nicht zum Leben. In der Regel sind jene Siedlungen auf Millionengröße angeschwollen, die eine starke Industrie hatten. Heute haben in Schenzhen (12,5 Mio. Einwohner) zum Beispiel der Handy-Riese Huawei sowie der Entwickler von Chinas beliebter Kommunikations-App WeChat ihren Sitz. In Hangzhou (9,2 Mio. Einwohner) ist der Online-Händler Alibaba zuhause. Und Yiwu (immerhin 700.000 Einwohner) produziert das ganze Jahr über Weihnachtsschmuck für Europa.
Die chinesische Gesellschaft hat sich massiv verändert – und tut es weiter. Immer noch ziehen die Menschen vom Land in die Städte, die förmlich explodieren. So kommt es, dass Reiseführerinnen bei Pressereisen Sätze sagen wie: „Wir kommen jetzt in eine kleine Stadt – nur zwei Millionen Einwohner.“ Dies durchaus mit Ironie, wohlwissend, dass ganz Österreich (chinesisch: „Aodili“) nicht einmal neun Millionen Einwohner zählt.
Das ist nur wenig mehr als die Acht-Millionen-Stadt Wuhan. Bis vor wenigen Wochen kannten trotzdem nur Wirtschaftstreibende die sechstgrößte Metropole Chinas – bis das Coronavirus sich von dort in die Welt aufmachte. Mit Außenbezirken zählt Wuhan gar elf Millionen Bewohner – läge es in Europa, wäre es gleich nach Moskau die zweitgrößte Metropole unseres Kontinents.
Die wichtige Industrie- und Stahlstadt liegt am Fluss Jangtse verkehrs- und handelstechnisch perfekt und ist mit einer Güterzugroute bis zur Rhein-Ruhr-Metropole Duisburg verbunden. Die deutsche Stahlstadt ist auch Partnerstadt von Wuhan.
Österreichs führende Stahlstadt Linz ist ebenfalls mit einer wichtigen Wirtschaftsmetropole verbunden: Chengdu, Hauptstadt der Provinz Sichuan und mit 14 Millionen Menschen einer der größten Ballungsräume Chinas. Von der Millionen-City in Südwestchina verkehren seit 2018 direkt bis Wien Güterzüge der ÖBB Rail Cargo. Bei Einheimischen wie Touristen ist die Stadt heute beliebt wegen ihrer nahe gelegenen Panda-Schutzzonen, ihrer Teehäuser und der feurig-scharfen Küche.
Der Feuertopf ist aber die Spezialität der bevölkerungsreichsten Ansiedlung Chinas: Chongqing. Fast 29 Millionen Menschen leben dort, auch der Großteil der 1,4 Millionen Chinesen, die durch die Errichtung des gewaltigen Drei-Schluchten-Damms ihre Heimat verloren haben.
Chongqing liegt am Zusammenfluss von Jangtse und Jialing Jiang und ist zugleich Verkehrsknoten und Industriehochburg. Auf dem Papier ist es mit 29 Millionen Einwohnern die größte Stadt Chinas. Die eigentliche Stadt zählt aber rund sechs Millionen Menschen, erst durch die Eingemeindung der ländlichen Nachbarorte hat sich die Bevölkerungszahl in den 1990ern sprunghaft erhöht. Auch Chongqings Wirtschaft ist durch Güterzüge bis Deutschland verbunden. Der steirische Leitplattenhersteller AT&S hat hier eines seiner zwei Werke in China.
Gespaltene Identität
Experte Mühlhahn hat den wirtschaftlichen Aufstieg des Staates im Buch „Making China Modern“ nachgezeichnet. Der atemlose Wandel vom Agrarstaat zum Land der Großstädte spiegelt sich auch im urbanen Leben wider, ist er überzeugt: „Die Leute wohnen in der Stadt, um Geld zu machen, aber sie haben keine städtische kulturelle Identität entwickelt. Innerlich schlägt ihr Herz weiterhin für das ländliche China.“
Buchtipp: "Making China Modern" (Englisch), Harvard University Press, 32 Euro, 717 Seiten.
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