Für Selver Dizdar ist es die erste Wahl – als Wahlhelfer. "Diese Wahl ist wichtiger als irgendeine andere in Europa", meint der 42-jährige, gebürtige Bosnier zum KURIER. Dizdar lebt erst seit acht Jahren in Wien. In Bosnien-Herzegowina war er in der Gemeindepolitik aktiv, dann verließ er das Land. "Ich habe versucht, etwas zu ändern, aber das war unmöglich."
Jetzt versucht er es von Wien aus. Seine Mission: die bosnische Diaspora aufzurütteln und zu überzeugen, wie richtungsweisend die anstehende Wahl sei. In den letzten Wochen hat er etwa geholfen, Wahlkarten zu beantragen. 20 Euro muss man dafür bezahlen, wenn man es am Sonntag nicht zur Wahl in die Botschaft schafft. Eine finanzielle Hürde, die für viele Menschen zu hoch ist.
170.000 Menschen aus Bosnien-Herzegowina leben in Österreich, die Hälfte davon hat die bosnische Staatsbürgerschaft. "Es geht um die Wahl zwischen der pro-europäischen, demokratischen oder nationalistischen, separatistischen Zukunft unseres Heimatlandes", schildert Dizdar.
Bei seinen Freunden und Angehörigen ist seine Botschaft bereits angekommen, ist sich Dizdar sicher. Doch was ist mit den restlichen, insgesamt drei Millionen bosnischen Wahlberechtigten?
Ein Land steht still
"Vor Wahlen kribbelt es doch normalerweise. In Bosnien-Herzegowina aber nicht", sagt Bedrana Ribo. Die bosnischstämmige Grünen-Politikerin strahlt kaum Zuversicht aus angesichts der Wahl: "Wir wissen jetzt schon, dass sich am 2. Oktober nicht viel verändern wird. Die Politikerinnen und Politik, die jetzt an der Macht sind, sind nicht in der Lage, Veränderungen herbeizuführen. Sie wollen spalten, nicht einen."
In Bosnien-Herzegowina kribbelt es also nicht. Viel schlimmer: Es steht still. Die Wirtschaft ist eine der schwächsten Europas, Armut ist weit verbreitet. Die großen nationalistischen Parteien - die bosnisch-kroatische HDZ, die bosniakische SDA und die bosnisch-serbische SNSD - und ihre Unterstützer in den Nachbarländern sorgen für politischen Stillstand im Land.
Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 21 Prozent, unter den Jungen sogar bei 40 Prozent. Seit 2013 kehrte rund eine halbe Million Menschen dem Land den Rücken. 2021 waren es etwa 170.000, heuer sind es bereits 150.000. Die Einwohnerzahl betrug 1991 noch knapp 4,4 Millionen, 2020 nur noch 3,3 Millionen. Die jungen Leute sind es leid, dieselben leeren Versprechen und nationalistischen Themen zu hören. Die im Land gebliebene, ältere Bevölkerung bestimmt die Wahl. "Wenn es so weiter geht, dann droht dem Land die Verwandlung in ein Altersheim", ist sich Bosniens Honorarkonsul in Österreich Davul Ljuhar sicher.
Wahlkampf der Ethnien
Ähnlich sieht es auch die österreichische Botschafterin in Sarajevo Ulrike Hartmann. Sie befürchtet, dass die massive Auswanderung wohl weitergehen wird. Kein Wunder, sehe man doch stets ein "more of the same". Im Wahlkampf kommen laut Hartmann Themen wie die EU und der Klimawandel kaum oder gar nicht vor.
Wichtig dagegen sei, wer zu welcher ethnischen Gruppe gehöre: "Es ist schwer, herauszufinden, wofür welche Partei steht. In der Wahlwerbung findet sehr wenig Inhalt statt. Besonders traurig: Das Thema EU findet überhaupt nicht statt". Seit 2016 ist Bosnien-Herzegowina potenzieller EU-Beitrittskandidat. Doch auch an dieser Baustelle herrscht Stillstand.
Melisa Šaponja ist letztes Jahr nach Deutschland ausgewandert. In Banja Luka, der Hauptstadt des serbischen Landesteiles, war sie Geschäftsführerin der größten Marketingagentur in Bosnien-Herzegowina - und verdiente entsprechend gut. Dennoch beschloss sie mit ihrem Mann, dass ihr Kind nicht dort aufwachsen sollte. "Immer mehr Familien, die finanziell gut situiert sind, verlassen das Land. Ausschlaggebend ist die Tatsache, dass die politische Situation krank und chaotisch ist und fast jede Institution korrupt ist. Wir haben kein Vertrauen und verspüren daher überhaupt keine Sicherheit, die das Wichtigste für ein entspannteres und komfortableres Leben ist", schildert Šaponja dem KURIER.
"Es schmerzt, dass unser Land, das alle Voraussetzungen für Wohlstand hatte, demografisch auseinanderbricht", sagt die 42-Jährige, die einen Neuanfang in einem kleinen Ort nahe Frankfurt wagte. Derzeit würde sie alles daran setzen, Deutsch zu lernen: "Es fällt mir nicht leicht, ohne Job zu sein. Ich bin es gewohnt, produktiv zu sein". Sie akzeptiere aber die Adaptionsschwierigkeiten. "Aller Anfang ist schwer. Dennoch: Alles ist besser, als im Krampf und Angst vor dem Morgen zu leben".
Kaum Träume, dafür viel Korruption
Was also tun? Diskussionen um eine Neuverhandlung des politischen Systems in Bosnien-Herzegowina werden auf internationaler Ebene kaum geführt. Gleichzeitig gibt es Bedenken, wie sehr die internationale Gemeinschaft bei einem neuen politischen System überhaupt mitsprechen dürfte. "Die Änderungen müssen von innen kommen", meint etwa Hartmann.
Doch das erscheint angesichts der Korruption im politischen System kaum möglich. Der Korruptionsindex von Transparency International listete das Land 2021 auf Platz 110 von 180. Die Regierungsparteien sollen im aktuellen Wahlkampf fast 300 Millionen KM (rund 153 Millionen Euro) an öffentlichen Mitteln für Einmalzahlungen und verschiedene Arten der Unterstützung für die Wähler missbraucht haben.
Rund drei Millionen Menschen sind aufgerufen, über verschiedene politische Ebenen im hochkomplizierten Aufbau ihres Staates abzustimmen. Seine politisch-administrative Struktur verdankt Bosnien-Herzegowina dem Friedensabkommen von Dayton, das Ende 1995 nach dem Bosnien-Kriegen ausgehandelt wurde. Die Kritik an dem System ist bekannt: Das ethnische Prinzip dominiert politische Entscheidungen und beeinflusst etwa die Stimmenvergabe bei einer Wahl. Wer wählt, muss sich zuvor einem der drei "konstitutiven Völker" zuordnen und sich als Bosniake (Bevölkerungsanteil ca. 50 Prozent), Serbe (31 Prozent) und Kroate (15 Prozent) identifizieren.
90 politische Parteien und zehn Kandidaten für das dreiköpfige Staatspräsidium (bestehend aus einem bosniakischen, einem bosnisch-kroatischen und einem bosnisch-serbischen Vertreter) ließen sich aufstellen.
Dazu kommt das Amt des Hohen Repräsentanten, der mit sogenannten Vollmachten ausgestattet ist, die Einhaltung des Friedensvertrags überwacht und Politiker absetzen kann. Derzeit besetzt das Amt der Deutsche Christian Schmidt, Ex-CSU-Minister.
Die Abwanderung der Jugend ist eines der größten Probleme Bosnien-Herzegowinas. Gleichzeitig schickt die Diaspora, die weltweit auf zwei Millionen Menschen geschätzt wird, jährlich zwei Milliarden Euro zurück ins Land.
"Der Glaube der Bürger an Veränderungen nach der Wahl ist praktisch nicht mehr vorhanden", sagt der Vorstandsvorsitzende von Transparency International BiH, Srdjan Blagovčanin. Eine aktuelle OSZE-Umfrage ergab, dass nur 23 Prozent der Bürger Vertrauen in das Wahlsystem haben. Eine niedrige Wahlbeteiligung scheint vorprogrammiert. "Das größte Problem besteht darin, dass diese Wahlen, wie alle anderen seit Kriegsende, weder fair noch ehrlich werden dürften. Manipulationen mit Wahlvorständen sind bereits sichtbar, ebenso wie zahlreiche andere Unregelmäßigkeiten", beklagt Blagovčanin.
Der Wahlhelfer Dizdar träumt trotzdem – von einer Wahlbeteiligung von 40 Prozent und Bosniens pro-europäischem Weg.
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