Der Westbalkan, Europas nächster Brandherd?
Heute vor 30 Jahren wurde Bosnien-Herzegowina unabhängig, ging als eigenständiger Staat aus dem multiethnischen Jugoslawien hervor. Wenige Tage später, am 6. März, brach der Bosnien-Krieg aus, der rund 100.000 Menschen das Leben kostete, mehr als die Hälfte der Bevölkerung – etwa zwei Millionen Menschen – flüchtete ins Ausland. Bis heute entdeckt man neue Gräber von Bosniaken, die von Serben ermordet worden sind.
Das Abkommen von Dayton beendete 1995 das Blutvergießen und versuchte, einen Staat aufzubauen. Trotzdem befindet sich das Land heute externen Beobachtern zufolge in seiner schwersten politischen Krise seit dem Ende der Balkan-Kriege. Und die Angst ist groß, dass der Krieg in der Ukraine den Spaltungskonflikt in Bosnien-Herzegowina wieder anheizen könnte – und der Westbalkan der nächste Brandherd Europas wird.
Die EU dürfte diese Bedenken teilen: Sie sendete angesichts des Krieges in der Ukraine 500 zusätzliche Soldaten, darunter 120 Österreicher, nach Bosnien-Herzegowina und verdoppelte die Truppen der dortigen Friedenstruppe EUFOR.
"Ich bin der Meinung, dass es da jedenfalls Parallelen gibt", sagt Vedran Dzihic, tätig am Österreichischen Institut für internationale Politik (oiip) und Lektor an der Universität Wien.
Gesellschaftliche Spaltung
Sowohl die Ukraine als auch Bosnien-Herzegowina gelten als gesellschaftlich tief gespalten: Genauso wie die Separatistengebiete Lugansk und Donezk in der Ostukraine strebt die Teilrepublik Republika Srpska unter der Führung von Milorad Dodik eine Abspaltung von Bosnien-Herzegowina an: Im Dezember kündigte Dodik einen Rückzug aus dem gesamtstaatlichen Finanz- und Steuersystem sowie aus der Armee an. Dzihic sagt, das käme einer Sezession gleich.
"Dodik genießt seit Jahren eine offene Unterstützung aus der Russischen Föderation von Wladimir Putin. Putin unterstützt Dodik in dessen Kritik am Amt des Hohen Repräsentanten, hat zu Beginn des Jahres bei den illegalen Feierlichkeiten der Republika Srpska den Botschafter entsandt und unterstützt ganz klar die administrativen Schritte zu Abspaltung", erklärt Dzihic.
Russland sehe darin eine weitere Möglichkeit, den "Vorstoß der westlichen Allianz stoppen und unterbinden": Russland ist gegen eine EU-Integration der gesamten Region. Montenegro ist seit 2010 EU-Beitrittskandidat, Serbien seit 2012, Nordmazedonien sogar seit 2005, Albanien seit 2015. Bosnien-Herzegowina hat 2016 einen Beitrittsantrag gestellt.
Lösung EU-Beitritt?
"Putin hat mit seinem Angriff auf die Ukraine gezeigt, wie wichtig ihm seine Form des Geschichtsbewusstseins ist. Mit einer möglichen Erweiterung der Union in Richtung des Westbalkans würde Russland einen Teil seines Einflusses verlieren und auch einen geopolitischen Verlust erleiden - zwar einen kleinen, aber aufgrund der historischen und kulturellen Beziehungen durchaus einen symbolisch wichtigen", so Dzihic.
Was ist die Lösung? Eine baldige Integration des Westbalkans in die EU?
Das ist scheint derzeit genauso unwahrscheinlich wie ein EU-Beitritt der Ukraine.
"Die Idealvorstellung wäre, man nimmt alle sechs Länder – inklusive des Kosovo – auf einmal auf und versucht dann, ethnonationale Konflikte in der Gesellschaft zu lösen. Der Westbalkan ist eine kleine Region mit etwa 16 Millionen Einwohnern, kleiner als Rumänien. Realpolitisch ist das aber ein Wunschdenken: Der EU-Erweiterungsprozess basiert auf ganz klaren Grundlagen, Regeln und Reformbereichen", gibt Dzihic zu Bedenken.
Und weiter: "Bevor man diesen Schritt überhaupt setzen kann, muss sich die EU zunächst einmal klar werden, was sie mit ihrem Erweiterungsprozess erreichen will. Das gilt sehr stark für Frankreich, das sich jetzt in den Wahlen befindet, aber auch für Bulgarien zum Beispiel, das den nordmazedonischen Prozess bisher klar blockiert hat. Ich bin leider sehr skeptisch, dass das bald passieren wird."
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