Boris Johnsons gefährlicher Poker mit dem harten Brexit: Blufft er, oder nicht?
Boris Johnson weiß hoch zu pokern. Und kaum jemand in Brüssel kann einschätzen, ob er blufft oder nicht. Der Mann will raus aus der EU. Koste es, was es wolle. Und damit trifft er einen Nerv. Denn die Briten haben das ewige Gezerre um den Brexit satt. Wie gut sind die Karten des neuen Premiers wirklich? Der KURIER beantwortet die wichtigsten Fragen.
Johnson sagt, er will den Brexit auf jeden Fall am 31. Oktober durchziehen. Ist der Austritt durch seine Bestellung realistischer geworden?
Ja, sagt die britische Politologin Melanie Sully. Johnson hat aus der EU-Wahl gelernt, bei der Nigel Farage gewonnen hat, der für einen „No-Deal-Brexit“ (einen Austritt ohne Abkommen mit der EU) geworben hat. Viele sind in Großbritannien offenbar bereit, das zu akzeptieren. Johnson versucht zwar, das Abkommen mit Brüssel nachzuverhandeln – bisher ohne Erfolg. Parallel bereitet er alles für den harten Brexit vor. Einen Kandidaten für die neue Kommission, die im November zusammentritt, will er nicht nennen.
Das Parlament hatte sich im März gegen einen harten Brexit ausgesprochen. Was bedeutet das für Johnson?
Nicht viel. Zwar ist die Mehrheit der Abgeordneten immer noch gegen einen No-Deal-Brexit, aber sie haben kein Gesetz dagegen beschlossen. Als sie sich im März dagegen ausgesprochen hatten, versprach Premierministerin Theresa May ohnehin, mit allen Mitteln einen harten Brexit zu verhindern, ein Gesetz wurde beschlossen, um May zu zwingen, eine Verschiebung zu beantragen. Aber May tat das, bevor das Gesetz durch war.
Wie kann das Parlament seinerseits einen harten Brexit noch verhindern?
Durch einen Misstrauensantrag gegen die Regierung Johnson. Aber auch das könnte einen harten Brexit möglicherweise nicht aufhalten. Denn die Neuwahlen würden frühestens am 24. Oktober stattfinden. Beziehungsweise hätte Johnson die Möglichkeit – auch wenn ihm das Vertrauen entzogen wird – der Queen vorzuschlagen, die Wahl am 31. Oktober, also am Austrittstag, abzuhalten.
Ist die Position des Parlaments gegenüber der Regierung geschwächt?
Ja, denn die Tagesordnung wird von der Regierung bestimmt. „Auf jeden Fall muss das Parlament sehr gut überlegen, was es tut“, sagt Sully. Ein Misstrauensantrag könnte Neuwahlen bedeuten, und ab dem Moment, in dem Neuwahlen angekündigt werden, arbeite das Parlament nicht mehr. Die Abgeordneten müssen dann ihre Büros räumen. Derzeit arbeiten Abgeordnete Strategien aus, wie sie nach der Sommerpause (3. September) vorgehen werden - möglicherweise mit Unterstützung des Parlamentssprechers. Eine Sondersitzung kann nur die Regierung beantragen.
Müssen die EU-Bürger in Großbritannien einen harten Brexit fürchten?
Boris Johnson verspricht EU-Bürgern in Großbritannien für diesen Fall ein Bleiberecht. In vielen anderen Bereichen wird die konkrete Auswirkung eines Austritts ohne Abkommen vom politischen „Goodwill“ abhängig.
Wie (re)agiert Brüssel?
Auch in Brüssel ist Sommerpause. Dort sind theoretisch immer noch Michel Barnier und sein Team für die Verhandlungen zuständig. Doch mehrmals hatte er betont, dass eine Arbeit mit dem May-Abkommen abgeschlossen sei. Er bräuchte ein neues Mandat vom Europäischen Rat für weitere Verhandlungen. Das ist nicht in Sicht. Auch Emmanuel Macron und Angela Merkel luden Boris Johnson zuletzt zwar zu Gesprächen ein – Verhandlungen schließen sie aber aus.
Ist es realistisch, dass noch einmal über den Austritt abgestimmt wird?
„Das ist immer möglich“, sagt Melanie Sully. Hinzu kommt, dass im Falle einer Neuwahl vor dem Austritt Brexit mit Sicherheit das zentrale Wahlkampfthema wäre. Daher wäre die Abstimmung ein De-facto-Referendum über Austritt (höchstwahrscheinlich dann ohne Abkommen) oder Verbleib.
Kann Großbritannien den Brexit noch aufhalten?
Den Austritts-Artikel (Art. 50 EU-V) kann London einseitig zurückziehen, befand der EuGH im Dezember. Es ist aber unklar, ob der Premier allein das Pouvoir dafür hätte, oder ob ein Referendum abgehalten werden müsste.
Johnson will raschen Brexit
Was sind die Folgen eines ungeregelten Austritts?
Die EU-27-Länder verlören mit dem harten Brexit ihren günstigen Marktzugang für einen Handelspartner, die Briten hingegen für 27. Und obendrein für all jene Länder, mit denen die EU Freihandelsabkommen geschlossen hat. Das erklärt, warum der Schaden eines harten Brexit für die Insel deutlich größer ausfiele.
Um wie viel, das hat der Wifo-Ökonom und WU-Professor Harald Oberhofer berechnet. Auf EU-Seite fielen die Realeinkommen im Jahr 2025 um voraussichtlich 0,13 Prozent geringer aus, als wenn die Briten verblieben wären (siehe Grafik). Auf britischer Seite betrüge der Schaden im Hard-Brexit-Fall 3,6 Prozent. Ohne Deal würde das Vereinigte Königreich aus EU-Sicht rein rechtlich betrachtet zum Drittstaat, für den die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) gelten. Die Zollaufschläge für Waren wären dabei noch das geringste Problem, sagt Oberhofer. Lästiger seien da schon die Kontrollen und Mengenbeschränkungen.
Ungeregelte ServicesUnd noch schwerer wiegt, dass die WTO für Dienstleistungen kaum Regeln vorsieht – was ganz besonders den Finanzsektor oder das Transportwesen betrifft. Insbesondere Londons riesiger Finanzsektor müsste mit der EU einheitliche Umgangsregeln („Äquivalenz-Abkommen“) beschließen. Die Briten müssten also abwägen: Sind ihnen eigene Finanzregeln wichtiger oder doch der EU-Marktzugang?
Die Schweiz kann davon ein Lied singen: Die EU akzeptiert die Börse SIX nicht als gleichwertiges Gegenüber, solange die Eidgenossen den neuen EU-Partnerschaftsvertrag nicht unterzeichnen. Seit 1. Juli 2019 dürfen somit an der Schweizer Börse keine EU-Aktien mehr gehandelt werden. Umgekehrt hat Bern den Handel mit Schweizer Aktien in der EU unterbunden.
Vielfach käme es auf guten Willen an, ob bei einem No-deal-Brexit Augenmaß oder der Gesetzestext regieren. Also ob Container mit Lebensmitteln vor der Einfuhr begast werden müssten. Oder ob britische Flugzeuge tatsächlich schlagartig ihre Zulassung und Landerechte auf EU-Boden verlören.
Keine KatastropheFür Österreich ist die britische Insel der neuntwichtigste Partner im Warenhandel. „Ein harter Brexit wäre keine Katastrophe für Österreich, aber sicher nicht positiv“, sagt IHS-Chef Martin Kocher. Er bleibt aber optimistisch, dass ein geregelter Übergang möglich ist. Premier Boris Johnson eile der Ruf voraus, seine Meinung öfters zu ändern. „Vielleicht ist es für ihn leichter, einen Brexit-Deal durchs Parlament zu bringen, als das für Theresa May der Fall war.“
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