Atomkrieg? Das Undenkbare, mit dem man rechnen muss
Der eine spricht vom "Armageddon", auf das die Welt derzeit zusteuere; der andere lässt seine geifernden Propagandisten regelmäßig mit Warnungen vor dem "Dritten Weltkrieg" ausrücken und sagt selbst breitbeinig, er "bluffe nicht".
Führen Joe Biden und Wladimir Putin noch einen Krieg der Worte – oder ist die Welt tatsächlich in der gleichen Lage wie zuletzt vor 60 Jahren, als die USA und die Sowjetunion im Zuge der Kubakrise den Finger am Atomknopf hatten?
"Ich will das Risiko nicht kleinreden oder gar ignorieren, das wäre gefährlich", sagt Lydia Wachs, Sicherheitsexpertin an der Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin. "Aber bei nüchterner Betrachtung sprechen nach wie vor einige Faktoren für eine geringe Wahrscheinlichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes".
Wie groß ist die Gefahr wirklich?
Putins Drohungen seien nicht neu, sagt sie, und der Kremlchef habe es bisher immer bei vagen Anspielungen gelassen – wohl ganz bewusst. "Atomwaffen sind politische Waffen. Bisher hat es auch keine wirklich explizite Drohung vom Kreml gegeben", sagt sie; oft hätten sein Sprecher oder der Außenminister im Nachhinein auch viel relativiert. Auch US-Präsident Joe Biden trete mit Aussagen wie jener vom "Armageddon" zwar markant auf, bleibe aber inhaltlich vage – das sei Teil der Strategie: "Man macht klar, dass ein Nuklearwaffeneinsatz massive Konsequenzen nach sich ziehen würde, lässt aber offen, wie der Westen genau reagieren würde. Das soll vermutlich Putins Risikokalkulation erschweren."
Wofür dann aber das ständige Säbelrasseln, das die Bevölkerung im Westen massiv verunsichert?
Wenig Nutzen
Putins Drohungen haben genau dieses Ziel – sie sollten "in erster Linie ein direktes Eingreifen des Westens verhindern", sagt Oberst Erwin Richter vom ABC-Abwehrzentrum des Bundesheeres – ähnlich also wie schon in Zeiten des Kalten Krieges. Auch für ihn ist ein atomarer Erstschlag der Russen derzeit "sehr, sehr unwahrscheinlich", zumal die russische Militärdoktrin einen solchen nur bei einer "Gefährdung der Souveränität des Staates" vorsieht. Auf diese Doktrin beruft der Kreml sich eigentlich immer.
Dass Putin die neuen ukrainischen Angriffe auf die annektierten Gebiete nun als Vorwand für eben jene Souveränitätsverletzung dienen könnten, glauben Experten eher nicht. Zum einen habe Russland habe noch andere, aus russischer Sicht womöglich effizientere Eskalationsmöglichkeiten, wie etwa das massive Bombardement ziviler Ziele, das man zuletzt gesehen hat – ein Drittel der ukrainischen Energieinfrastruktur wurde zerstört. Zum anderen wäre der Einsatz einer Nuklearwaffe auf ukrainischem Boden auch militärisch nur bedingt sinnvoll: "Auch mit Atomwaffen kann Russland die ukrainischen Streitkräfte nicht mit einem Schlag vernichten", sagt Richter. Zudem gäbe es sofortige Gegenmaßnahmen. Was Moskau übrig bliebe, wäre ein Angriff auf "politische Ziele" – wie etwa Großstädte, sagt Richter. Doch auch das brächte keinen militärischen Nutzen – und dazu völlig unabsehbare politische wie militärische Folgen. "Das wäre der absolute Wahnsinn."
"Die Kosten für einen Atomwaffeneinsatz wären sehr hoch", sagt auch Wachs. "Der politische Nutzen für Moskau wäre nicht da – weder außenpolitisch, da Russland noch massiver isoliert wäre als jetzt schon, denn auch China und Indien würden sich höchstwahrscheinlich von Moskau abwenden. Und auch im eigenen Land könnte Putin einen Angriff auf jene Gebiete, die er eigentlich ,befreien’ wollte, nur schwer rechtfertigen." Das Risiko wäre auch innenpolitisch hoch.
"Keine Vorbereitungen"
Ob es jemanden gibt, der den Kremlchef – im Fall des Falles – dennoch von einer derartigen, irrationalen Entscheidung abbringen kann, lässt sich allerdings nur schwer sagen. "Man weiß sehr wenig über die russische Befehlskette", sagt Wachs, involviert seien neben Putin selbst wohl Verteidigungsminister Sergej Schoigu und auch Generalstabschef Walerij Gerassimow. Ob es von beiden Putin-Getreuen ein Ja zur totalen Eskalation bräuchte oder ob eine Zustimmung reicht, ist nicht sicher; ebenso wenig, ob eine ausführende Person in der unteren Befehlskette den Einsatz verhindern würde.
Beruhigend sei aber, dass man "derzeit keinerlei Vorbereitungen für einen Atomschlag" sehe, sagt Wachs. Taktische oder nicht-strategische Nuklearwaffen – also solche, die bei einem kleinräumigeren Angriff wohl zum Einsatz kämen – seien nämlich nicht in ständiger Alarmbereitschaft, sondern die Sprengköpfe müssten erst aus ihren Lagerstätten geholt, zu Militärbasen gebracht und auf Trägersysteme montiert werden. "Diese Vorbereitungen würden die westlichen Geheimdienste wahrscheinlich erkennen", sagt die Expertin.
Für Richter ist auch entscheidend, wie sich das russische Militär selbst wappnet. "Wenn man einen Erstschlag plant, wäre es essenziell, dass man sich vor Gegenangriffen schützt". Vorbereitungen dazu hat Putin aber trotz aller Weltkriegsrhetorik noch nicht einleiten lassen.
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