Russische Soldaten geben seltene Einblicke: "Es gibt keine Uniformen, nicht mal Essen"

Russische Soldaten geben seltene Einblicke: "Es gibt keine Uniformen, nicht mal Essen"
Wer in Russland eingezogen wird, bekommt vom Staat fast nichts. Mütter und Frauen starten darum Crowdfunding-Kampagnen, doch immer mehr Soldaten desertieren – und werden dafür totgeprügelt.

"Fragt eure Frauen und Mütter nach Tampons“, sagt die Frau in Uniform scharf zu den umstehenden Männern. "Wisst ihr, wofür? Ihr steckt sie euch in die Wunden. Das weiß ich seit den Tschetschenienkriegen."

Die Szene wirkt absurd, die Männer schauen ungläubig. "Also bekommen wir hier gar nichts, keine Ausrüstung?", fragt einer. "Ihr bringt alles selbst mit, Jungs! Die Armee gibt euch nur Uniformen und Waffen. Sonst nichts."

Videos wie dieses kursieren derzeit zuhauf in russischen Telegramkanälen. Die "Mobiki", die Mobilisierten, schimpfen da in die Kamera, es sei alles chaotisch – keine Schlafsäcke, kein Verbandsmaterial, ja nicht mal Patronen gebe es für sie. "Wir haben unsere Munition auf der Straße gefunden", sagt ein Soldat, der in Belgorod nahe der ukrainischen Grenze stationiert ist. Sein Gesicht und die seiner wütenden Kollegen sind dabei deutlich zu sehen.

Rekrutierung im Obdachlosenheim

Dass die chaotische Mobilisierung in Russland ganz offen kritisiert wird, ist mehr als ungewöhnlich. Denn an sich ist es unter Strafe nicht nur verboten, als Armeeangehöriger Videos zu verschicken, sondern auch jede Kritik an den Streitkräften an sich. Doch derzeit kommt die Militärverwaltung mit der Verfolgung solcher "Denunziationen" nicht nach, zu sehr ist man mit der zwangsweisen Rekrutierung Unwilliger beschäftigt – in Moskau sogar in Obdachlosenheimen.

Da sich mittlerweile auch Ehefrauen und Mütter der Rekrutierten in Gruppen organisieren, um Schutzausrüstung, Schlafsäcke, und anderes Überlebensnotwendiges für ihre Liebsten zu sammeln, lässt sich die Problematik nicht mehr gut verstecken. Die Gruppen auf dem Facebook-Pendant VKontakte und dem Nachrichtendienst Telegram geben sich zwar höchst patriotisch, offenbaren aber so gleichsam unabsichtlich die massiven Defizite der russischen Armee.

"Alles, was wir für die Mobilisierung brauchen, ist in den Geschäften ausverkauft – eine Katastrophe", schreibt etwa Ljubow Fjodorowa aus dem Ural, eine der Organisatorinnen der VKontakte-Seite Der Ural lässt die Seinen nicht im Stich. Sie hat Tausende Follower, bittet regelmäßig um Geldspenden, Winterunterwäsche oder warme Stiefel, auch Nachtsichtgeräte oder Durchfallmedizin werden gesucht. Dazu gibt’s Strickvideos für warme Socken: "Damit unsere Jungs wieder gesund nach Hause kommen", sagt eine alte Dame darauf.

Dass die bis zu 300.000 Männer, die der Kreml an die Front schicken will, ohne Schutzausrüstung in den Krieg ziehen sollen, hat allerdings kaum finanzielle Gründe. Die russische Armee hat das fünfgrößte Budget weltweit, 66 Milliarden Dollar betrug es im Jahr 2021. Nur: Seit Jahrzehnten grassiert dort die Korruption, und seit Beginn des Krieges ist das nur noch schlimmer geworden – Depots mit Ausrüstung und Essen wurden regelmäßig geplündert, und das Diebesgut wird derzeit so teuer weiterverkauft wie noch nie. Wer nach der gängigen Splitterschutzweste "6B45" sucht, muss dafür etwa ein kleines Vermögen hinlegen – auf Onlineplattformen wird sie derzeit um gut 700 Euro verkauft. Das ist nicht nur ein Vielfaches des eigentlichen Preises, sondern für viele Mobilisierte mehr als ein Monatsgehalt.

Russische Soldaten geben seltene Einblicke: "Es gibt keine Uniformen, nicht mal Essen"

Widerstand

Dass die frisch Rekrutierten darum immer öfter den Dienst verweigern und desertieren, wundert daher kaum. In Brjansk, knapp 150 Kilometer von der Ukraine entfernt, weigern sich derzeit gerade 100 Mobilisierte, weiter Richtung Westen zu ziehen – sie sollten eigentlich die ukrainische Stadt Lyman zurückerobern, aus der die Russen vor Kurzem vertrieben wurden.

Einer der Fahnenflüchtigen ist von sich aus an die Öffentlichkeit gegangen: "Von den 100 'Mobiki', die zuletzt nach Lyman geschickt wurden, kam aber nur einer lebend zurück – und der ist jetzt schwer verletzt im Krankenhaus", erzählt er dem Oppositionsportal Sota. Das wundere ihn nicht, sagt der Mann, denn "mein Training hat bisher nur aus einem einzigen Zielschießen bestanden". Was passiere, wenn er sich weigere? "Wer nicht in den Krieg ziehen will, wird von den Vorgesetzten ganz einfach misshandelt", sagt er.

Seltsame Suizide

Auch Galina Koltun aus Bratsk erzählt eine ähnliche Geschichte. "Alle sind betrunken, es gibt keine Uniformen, nicht mal Essen", habe ihr Mann Aleksandr, 35, in einem der letzten Telefonate zu ihr gesagt, erzählt die sechsfache Mutter dem unabhängigen Portal Sibirische Realität. Eigentlich habe er sich freiwillig gemeldet, zum Geldverdienen, doch sein Geld habe nicht mal für die Ausrüstung gereicht.

Ein paar Tage nach seiner Abreise habe ihr ein Freund ein Foto geschickt, darauf habe sich ihr Aleksandr vor Schmerz gekrümmt. Kurz später sei er tot gewesen.

Woran er gestorben sei? Das wisse sie nicht. In den Krieg gezogen sei er jedenfalls nicht, ebenso wie viele andere junge Soldaten, auf deren Totenscheinen "Herzstillstand" oder "Suizid" steht. Ominöse Todesfälle wie diese machen zwar nur einen Bruchteil der Toten der letzten Monate aus, doch auch dahinter steckt System: Viele Einberufene wehren sich gegen die Mobilisierung, manche mit Anwalt, manche mit Worten – weil sie nicht den Kriterien entsprechen, chronisch krank sind oder keine Kampferfahrung haben. Das russische Militär aber hat eine lange und leidvolle Geschichte im Umgang mit solchen "Anormalitäten": Ihr Mann, vermutet Galina, sei wohl totgeprügelt worden, weil er sich beschwert habe. Und er dürfte nicht der Einzige gewesen sein.

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