War das wirklich der Befreiungsschlag, den er brauchte? Am Dienstag heulten in der gesamten Ukraine abermals die Sirenen, wieder schlugen russische Raketen in Städten ein, beschädigten Teile der kritischen Infrastruktur, wie etwa das Kohlekraftwerk Ladyschyn oder ein Heizkraftwerk südwestlich von Kiew. 20 Raketen waren es insgesamt, dazu iranische Kamikazedrohnen, die seit einigen Wochen in der Ukraine im Einsatz sind.
Das war nicht nur die „Rache“ des Kreml für die Sprengung der Brücke von Kertsch zur Halbinsel Krim, dem 3,75 Milliarden Euro teuren Prestigeprojekt, mit dem Putin seinen Griff nach der Ukraine in Beton gießen wollte. Es war ein schon lange geplanter Vergeltungsschlag – und ein innenpolitischer Schachzug Putins, der seit dem Rückzug seiner Soldaten im Süden und Osten so sehr unter Zugzwang steht wie seit Langem nicht. Er stehe massiv „unter dem Druck jener, die einen Sieg erzwingen wollen“, analysiert Kremlbeobachterin Tatjana Stanowaja.
Die Stimmung dreht sich
Das ist eine Situation, in der Putin sich seit Jahren nicht mehr befunden hat, so die Expertin. Diejenigen, die ihn auch medial drängen, sind Tschetschenenführer Ramzan Kadyrow und Jewgenij Prigoschin, der Gründer der Wagner-Söldner; sie haben sich vor allem auf Verteidigungsminister Sergej Schoigu eingeschossen. Mittlerweile hat sich die Kritik auch in den – eigentlich vom Kreml perfekt durchorchestrierten – staatlichen Medien verfangen: Immer öfter wird in den abendlichen Talkshows offen über Verluste gesprochen, Verantwortliche offen angekreidet – etwas, was vor einigen Wochen noch völlig undenkbar gewesen war. Grund dafür ist neben den Gebietsverlusten freilich hauptsächlich die verkorkst laufende Mobilisierung, mit der Putin auch dem Ruf seiner Hardliner folgte – die aber letztlich bisher nur für eine Auswanderungswelle und ein deutlich verschlechtertes Stimmungsbild im Land sorgte.
Laut Lewada, dem einzig verbliebenen unabhängigen Umfrageinstitut Russlands, sind nur mehr 53 Prozent der Russen mit dem Kriegsverlauf zufrieden; im Mai waren es noch 73 gewesen. Das ist ziemlich wenig in einem Land, in dem man selbst für ehrliche Umfragebeantwortungen mit Repressionen rechnen muss.
„Heikle Lage“
Putin hat sich mit seinem – vermeintlichen – Befreiungsschlag in eine „heikle Lage“ manövriert, konstatiert Stanowaja: Es gebe keinen Weg zurück, und die Falken in seinem Umfeld würden immer noch mehr verlangen. Dazu kommt, dass einige Teile der russischen Elite – vor allem die wirtschaftsnahe – mittlerweile genug vom Krieg haben; die Sanktionen sind spürbar, der Wunsch nach der Rückkehr zum alten Leben groß.
Ihnen wird Putin diese Freude wohl nicht machen. In den Telegramchannels der Hardliner hallt nämlich bereits der Ruf nach mehr Bomben: Weil „nur mehr“ 300 Ortschaften ohne Strom seien und die Ukrainer in mehr als 3.500 Ortschaften die Versorgung bereits wieder hergestellt haben, forderte man umgehend neue Attacken. „Die gestrigen Schläge haben das Land nicht für längere Zeit ins Mittelalter zurückversetzt“, hieß es, es sei deshalb notwendig, „die ukrainische Bevölkerung stärker in Panik zu versetzen und damit die Moral der ukrainischen Streitkräfte zu mindern“.
Bleibt also die Frage: Eskaliert Putin weiter?
Jein – zumindest nicht so, wie bisher. Vieles weist nämlich derzeit darauf hin, dass der Kreml nicht wahllos Raketen und Marschflugkörper einsetzen wird können. Seit Kriegsbeginn hat Russland mehr als 3.800 davon abgefeuert, jährlich kann die russische Kriegsindustrie aber nur 200 bis 300 Stück produzieren, würde Stand jetzt also mindestens zwölf Jahre benötigen, um die bereits verfeuerten Raketen zu ersetzen. Zusätzlich weist etwa der luftgestützte Marschflugkörper Ch-101 massive Fehlfunktionen auf – und das, obwohl ein Exemplar 13 Millionen Dollar pro Stück kostet.
Laut Politico greift Russland beim Waffenbau darum auf Halbleiterchips aus Haushaltsgeräten wie Kühlschränken zurück, weil man sich in den vergangenen Jahren auf westliche Zulieferer verlassen habe. Eine Steigerung der Produktionskapazitäten scheint angesichts des Mangels an Fachkräften und des Embargos bei der Lieferung von notwendigen Industriegütern zweifelhaft. Laut ukrainischen Quellen soll das russische Arsenal an modernen Raketen und Marschflugkörpern um mehr als die Hälfte geschrumpft sein.
Ungenaue Raketen
Trifft das zu, sind das dennoch schlechte Nachrichten für ukrainische Zivilisten: Denn nach wie vor befinden sich Raketen aus sowjetischer Produktion – ein großer Teil tatsächlich in der Ukraine gefertigt – in den Händen der russischen Streitkräfte. In puncto Genauigkeit sind sie fehleranfällig, was beispielsweise den Einschlag auf einem ukrainischen Kinderspielplatz am Montag erklären könnte.
Zu den alten Geschossen zählen etwa die S-300-Raketen, die eigentlich für die Luftabwehr hergestellt wurden. Bereits im Sommer setzten die russischen Streitkräfte diese gegen Gebäude im Raum Cherson ein. Nachdem der Winter nicht viele Möglichkeiten für den Kampf am Boden zulassen dürfte, ist damit zu rechnen, dass der Kreml die Schläge gegen Energieinfrastruktur und zivile Einrichtungen verstärken wird – nur mit weniger präzisen Waffen und damit mit einem noch höheren Risiko für die ukrainische Bevölkerung.
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