Experte Mangott: Atomwaffen-Einsatz "wahrscheinlicher als zuvor"
"Das gab es noch nie", erklärt der Osteuropa- und Russland-Experte Gerhard Mangott, "weder bei der Krim-Annexion noch im Kaukasuskrieg oder in Syrien. Putin lässt die Bevölkerung zum ersten Mal spüren, dass Russland im Krieg ist."
Sieben Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges hat Wladimir Putin in der Ukraine eine Teilmobilmachung der eigenen Streitkräfte angeordnet. Diese soll noch am Mittwoch beginnen. Rekrutiert werden etwa 300.000 Männer, die über eine militärische Ausbildung und Erfahrung verfügen und mit Waffen umgehen können.
Putin sei "lange davor zurückgeschreckt", die Mobilmachung anzuordnen, "weil das bedeutet hätte, dass die Bevölkerung tatsächlich spürt, dass Russland im Krieg ist. Väter und Söhne werden von ihren Familien getrennt und aus ihren Berufen geholt, um an die Front zu gehen", so Mangott gegenüber dem KURIER. Bis dato hätte Putin "Sorge gehabt, dass bei einer Teilmobilisierung die Stimmung im Land kippen könnte." Doch nach Berichten über Russlands Schwächeln in der Ukraine und der Rückeroberung ostukrainischer Gebiete durch Kiew dürfte er sich nun dem militärischen Druck gebeugt haben.
Ganz einfach dürfte die Teilmobilmachung aber nicht werden: Putin hat in seiner Rede die Rüstungsunternehmen aufgefordert, die Produktionsanstrengungen zu erhöhen. "Die Menschen müssen mit Waffen und Uniformen ausgestattet werden. Sie müssen ins Einsatzgebiet gebracht und dort versorgt werden. Für so eine Mobilmachung ist die russische Armee eigentlich nicht vorbereitet und benötigt Vorlaufszeit." Die 300.000 Mann würden auch in der russischen Wirtschaft, in der Produktion, in Unternehmen fehlen. "Aber Russland ist offensichtlich bereit, diesen Kostenfaktor in Kauf zu nehmen."
Wie sich der Krieg jetzt verändern wird, ließe sich schwer sagen: "Da ist eine neue Erfahrung für die russischen Streitkräfte. Es gibt keine Vorerfahrung, wie das Ganze möglichst erfolgreich und effizient umgesetzt werden kann."
Putin droht mit Atomwaffen
Zeitlich passe die Mobilmachung zu den angekündigten Referenden in den Regionen Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja in den kommenden Tagen, die sehr wahrscheinlich für den Beitritt der eroberten Gebiete zu Russland ausgehen werden. "Jeder ukrainische Vorstoß auf diese dann angeblichen russischen Staatsgebiete würde Russland als Angriff aufs eigene Territorium begreifen und entsprechend militärisch reagieren. Das stellt eine neue gefährliche Situation dar." Denn die russische nukleare Doktrin erlaube es Russland, selbst Nuklearwaffen einzusetzen, wenn die Existenz des Staates bei einem konventionellen Angriff auf dem Spiel steht.
In seiner TV-Ansprache – die erste seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 – drohte Putin einmal mehr explizit mit dem Einsatz nuklearer Waffen. "Putin sagte, dass Russland bereit sei, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, um sich zu verteidigen. Und er sagte auch, dass dies kein Bluff sei." Putins Drohung sei auch eine Drohung an den Westen, so Mangott, der derzeit darüber diskutiere, ob die Ukraine weiterhin und im selben Umfang mit Waffen unterstützt werden soll wie bisher. Seine Drohung sei ein Versuch der russischen Seite, die Ukraine und den Westen von Gegenoffensiven und weiteren Waffenlieferungen abzuschrecken.
Zwar hält Mangott den Einsatz von Atomwaffen immer noch für "nicht sehr wahrscheinlich", Putins Drohung mache ihn aber "wahrscheinlicher als je zuvor". Vergleichbar mit dem Einsatz von Atomwaffen im Zweiten Weltkrieg wäre das aber nicht: "Taktische Nuklearwaffen haben eine weitaus geringere Zerstörungskraft als strategische Waffen. Ihrer Explosionsenergie ist skalierbar von eins bis zehn Kilotonnen; die Atombomben, die auf Hiroshima und Nagasaki fielen, hatten eine Explosionsenergie von 15 Kilotonnen.“ Eine radioaktive Verseuchung fände natürlich trotzdem statt.
Westen überlegt Gegenangriff
Offiziell hält sich der Westen in der Frage, wie er auf den Einsatz nuklearer Waffen regieren würde, bedeckt, um Russland im Unklaren zu lassen. Hinter den Kulissen würde aber diskutiert, ob neue Sanktionen, eine Mobilisierung Chinas und Indiens oder gar ein nuklearer Gegenschlag infrage kämen. Letztes würde vor allem von den USA gefordert; Mangott beruft sich auf informelle Quellen aus dem Pentagon: "Die USA würden den Einsatz von Atom-Waffen nicht kommentarlos hinnehmen. Eine Überlegung ist etwa, als Antwort eine Gegendetonation über nicht bewohntem Territorium abzulassen."
Am Rande eines Dritten Weltkrieges befände sich die Welt aber noch nicht, so Mangott. "Ein globaler nuklearer Krieg ist weder im Interesse Russlands noch der USA. Doch sollten wirklich Atomwaffen zum Einsatz kommen, bewegen wir uns am Rande einer nuklearen Katastrophe."
Dass Belarus übrigens auch in den Krieg eintritt, nachdem Machthaber Alexander Lukaschenko am Dienstagabend verkündet hat, dass auch Weißrussland das Kriegsrecht vorbereiten würde, hält Mangott für unwahrscheinlich: Wahrscheinlicher sei es, dass Lukaschenko bei der Verhängung des Kriegsrechts "die staatliche Kontrolle über die Bevölkerung noch stärker ausdehnen und Manifestationen der Unzufriedenheit oder des Ungehorsams noch stärker unterdrücken wird." Denn auch gegen Belarus hat der Westen aufgrund Lukaschenkos Solidarität mit Russland die Sanktionen verschärft. Das sorgt für immer mehr Unzufriedenheit und innenpolitische Spannungen in Weißrussland.
Kommentare