Der Umgang mit Erdoğan als Drahtseilakt für Österreich und die EU

Das Timing lässt Fragen offen, die Tatsache nicht: Denn, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die klare, allerdings durchaus zu hinterfragende Parteinahme Österreichs im Gaza-Krieg zugunsten von Israel durch das Hissen der blau-weißen Fahne kritisieren würde, war sonnenklar.
Warum es erst mit zweitägiger Verspätung geschah? Einfach verschlafen? Wohl nicht. Vielleicht bewusst erst am Montag reagiert, weil der "Heilige Zorn" des Staatsoberhauptes am Wochenende vielleicht nicht so wahrgenommen worden wäre? Eher. Fest steht: Der Bannstrahl des selbst ernannten "Sultan" traf die Republik diesmal mit besonders blumigen und zugleich scharfen Worten: "Ich verfluche den österreichischen Staat!" Na dann, er wird es dennoch aushalten. Denn in Wahrheit handelt es sich bei diesen (gegenseitigen) Wortgefechten um ein Schattenboxen – das weiß man in Ankara wie in Wien.
Wenn Innenminister Nehammer Erdoğan vorwirft, "Öl ins Feuer" des Gazakrieges zu gießen, und Sebastian Kurz die Israel-Flagge über dem Kanzleramt hochziehen lässt, ist der Protest aus der Türkei schon "eingepreist". Und der Präsident nimmt den Ball natürlich nur zu gerne auf. Zumal die bilateralen Beziehungen seit geraumer Zeit angespannt sind und jede Verwerfung fast begierig ausgeschlachtet wird, um der anderen Seite eins überzubraten. Erdoğan (im Umfragetief) kann damit innenpolitisch billig punkten.
Und da müsste man sich in der EU und in Österreich langsam fragen: Will man ihm diesen Vorteil tatsächlich verschaffen? Natürlich kann sich der Kontinent nicht permanent und penetrant auf der Nase herumtanzen lassen. Rote Linien muss es geben: Etwa wenn es direkte oder indirekte Einflussnahmen auf die türkisch-stämmigen Communitys in Europa gibt. Doch Erdoğans verbale Ausritte sollten mit mehr Gelassenheit als das gesehen werden, was sie sind: Wohl kalkulierte Volten eines skrupellosen islamischen Populisten, dem es primär um den Machterhalt geht.
Die Volten des "Sultans"
Ein kurzer Auszug: Europäische Führer beschimpfte der Autokrat wegen deren vermeintlicher Islamophobie schon mal als Faschisten und Nazis; dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron empfahl er im Rahmen des Karikaturenstreits nach der Enthauptung eines Pädagogen, seinen Geisteszustand überprüfen zu lassen. Um kurz danach, als Ende des Vorjahres die Wirtschaftskrise voll zuschlug, seine Liebe zu Europa zu entdecken.
Das alles macht Erdoğan wahrlich nicht sympathisch, nach zwei Jahrzehnten an der Macht wäre ein Wechsel angezeigt, aber letztlich muss dieses Problem die türkische Bevölkerung lösen. Europa soll dabei die demokratischen Kräfte stärken, im Umgang mit dem "Sultan" Augenmaß bewahren und nicht auf jede seiner verbalen Entgleisungen reagieren.
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