Tabu: Wenn Psychotherapeuten Grenzen überschreiten

Immer wieder kommt es zu Übergriffen im Rahmen der Therapie.
Über die Risiken und fatalen Folgen, wenn Therapeuten übergriffig werden.

Die #metoo-Bewegung hat eine gesellschaftliche Debatte zu sexueller Belästigung losgetreten, die immer mehr Frauen von Übergriffen erzählen lässt. Doch gerade da, wo diese aufgearbeitet werden, in der Psychotherapie, ist Missbrauch nach wie vor ein großes Tabuthema.

Bedrängen, Druck ausüben bis hin zu sexuellem Missbrauch – immer wieder wird das Abhängigkeitsverhältnis der – zumeist Klientinnen – von Therapeuten ausgenutzt, sagt Silke Gahleitner, Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin, anlässlich einer Tagung des Therapiezentrums intakt.

KURIER: Was fällt unter Übergriffe in der Psychotherapie?

Das Gemeinsame von Übergriffen in der Psychotherapie ist der emotionale Missbrauch, bei dem ein Therapeut ein Machtgefälle ausnutzt, um sich zu bereichern, sei es finanziell, ideell, also jemanden für seine Ideale oder Werte benutzt, bis hin zu sexuell. Die Klientinnen begeben sich für die Therapie in eine Abhängigkeitssituation. Es ist fatal, dass ausgerechnet dieses Sich-Einlassen ausgebeutet wird. Risiken und Nebenwirkungen können Therapien immer haben. Große Schäden kommen jedoch besonders dann zustande, wenn Therapeuten auf die Fehler, die sie machen, nicht eingehen. Wenn ich z.B. jemanden aus Versehen an einer Stelle anfasse, wo es für ihn oder für sie nicht in Ordnung ist, dann kann ich es ansprechen. Aber wenn ich alle Signale missachte und nur meinen Bedürfnissen folge, kann man von einem Übergriff sprechen.

Wie können Klienten feststellen, dass eine Grenze überschritten wird?

Von den Klienten alleine aus ist das wahnsinnig schwer wahrzunehmen. Sie müssen erst wissen, dass es ethische Grundsätze gibt, dass bestimmte Dinge in der Therapie und Beratung einfach nicht sein dürfen. Das ist immer noch ein Tabuthema. Dazu braucht es eine bessere Aufklärung, die sowohl in der Ausbildung der Psychotherapeuten als auch in Beschwerdestellen präsent ist, dann können wir die Klienten und Klientinnen zumindest soweit informieren, dass sie auf Signale achten können. Deshalb müssen wir viel mehr darüber sprechen. Man hat in der Missbrauchsdebatte gemerkt, dass Menschen erst dann aufstehen, erst dann erzählen können, wenn es dafür ein politisches und gesellschaftliches Klima gibt.

Es kann vonseiten der Klienten auch der Wunsch nach einer privaten oder sexuellen Beziehung zum Therapeuten aufkommen.

Der reine Wunsch ist erlaubt, aber der Therapeut hat die volle Verantwortung dafür, das in andere Bahnen zu lenken. Es ist ganz klar, dass – auch wenn Klienten den Wunsch verspüren – innerhalb dieses Machtgefälles der therapeutischen Sitzung kein guter Ort für Liebesbeziehungen ist und dass es dafür keine Möglichkeit gibt. Diese Verantwortung trägt der behandelnde Therapeut. Es gibt nicht umsonst eine Schutzklausel, die besagt, dass auch mehrere Jahre nach abgeschlossener Therapie, keine Liebesbeziehung eingegangen werden soll, wobei auch empfohlen wird, das prinzipiell nicht zu tun. Diese Schutzklausel ist enorm wichtig, denn auch nach dem Ende der Therapie ist die Rollenverteilung immer noch aufrecht. Der Therapeut hat die volle Verantwortung dafür, mit diesen Gefühlen konstruktiv und therapeutisch sinnvoll umzugehen.

Welche Folgen kann es haben, wenn das Abhängigkeitsverhältnis ausgenutzt wird?

Die Folgen sind, gerade bei sexuellen Übergriffen, ähnlich wie beim schweren Kindesmissbrauch und bei Folteropfern, weil ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis gebrochen wird. Das große Spektrum der Traumafolgen umfasst viele Auswirkungen, unter anderem die Posttraumatische Belastungsstörung, aber auch Essstörungen, Depression, Dissoziationen (Anmerkung: Störungen des Wahrnehmens, des Gedächtnisses). Auch die Fähigkeit, Bindungen aufzubauen, kann dadurch angegriffen werden.

Wie häufig sind derartige Übergriffe?

Es gibt nur ganz wenige Fälle, die angezeigt werden, weshalb man das sehr schwer sagen kann. Die Untersuchungen dazu sind sehr unterschiedlich. Aus Amerika gibt es Zahlen, dass Übergriffe bei 20 Prozent der Therapeuten vorkommen. In anderen Untersuchungen spricht man von zehn Prozent, aber insgesamt schwankt es sehr. Auf jeden Fall kann man sagen, dass es einen eindeutigen Geschlechterunterschied gibt, es gibt mehr Männer in der Täterrolle und mehr Klientinnen in der Opferrolle. Wobei man da auch sehr vorsichtig sein muss, weil es für Männer sehr schwierig ist, sich als Opfer erkennen zu geben und für Frauen als Täterinnen.

Wie erfolgt die Qualitätskontrolle in der Psychotherapie?

Es gibt Beschwerdestellen (Anmerkung: z.B. vom Österreichischen Bundesverband für Psychotherapie) und den Eingaben dort wird nachgegangen. Ich denke, es ist etwas ganz Wichtiges, dass wir schon unter den Ausbildungskandidaten und damit den fertigen Therapeuten ein Klima schaffen, wo ganz viel über das Thema gesprochen wird – auch über schon viel kleinere Grenzüberschreitungen, die unabsichtlich passieren, sodass es einen fließenden Übergang gibt.

Wir als Therapeuten müssen zu Supervision oder Intervision gehen. Es ist ganz wichtig, dass wir uns regelmäßig infrage stellen und fragen, was bestimmte Klientinnen und Klienten in mir auslösen. Es ist ja nicht verboten, dass sie Gefühle in mir auslösen, das lässt sich auch gar nicht verhindern, sonst lasse ich mich gar nicht ein, aber es ist natürlich verboten diese Gefühle für mich zu nutzen.

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