Wenn Männer absichtlich das Kondom abziehen

Bei "Stealthing" entfernt der Mann während des Sexualakts das Kondom.
Eine Studie befasst sich erstmals mit "Stealthing", einer Praktik, bei der Männer ohne Einverständnis ihrer Sexualpartnerin während des Geschlechtsverkehrs das Kondom entfernen.

Im Jänner dieses Jahres wurde ein Mann in der Schweiz verurteilt, weil er das Kondom während des Geschlechtsverkehrs ohne die Einwilligung seiner Partnerin abgezogen hatte. Der 47-jährige Franzose wurde vor dem Strafgericht in Lausanne wegen Vergewaltigung zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Vor Gericht sagte der Angeklagte aus, "vergessen" zu haben, ein Kondom überzuziehen (mehr dazu hier).

Alexandra Brodsky widmet sich in ihrer Studie nun erstmals systematisch dieser "Praktik", die unter der Bezeichnung "Stealthing" bei Männern tatsächlich immer beliebter wird. "Stealth" bedeutet übersetzt so viel wie "Heimlichkeit" oder "List".

Interviews mit Betroffenen

Im Zuge ihrer Untersuchung, die im Columbia Journal of Gender and Law veröffentlicht wurde, sprach Brodsky mit betroffenen Frauen, die ihr ihre Erlebnisse schilderten. So erzählte ihr eine Frau namens Rebecca, selbst Opfer von Stealthing, dass sie bei ihrer Arbeit für eine Notruf-Hotline für Opfer sexualisierter Gewalt immer öfter Anrufe von Frauen mit derartigen Erfahrungen entgegennimmt. "Die Geschichten beginnen immer gleich: 'Ich bin mir nicht sicher, ob es eine Vergewaltigung ist, aber …'", sagte Rebecca im Gespräch mit Brodsky. Ein weiteres Opfer sprach von den Erlebnissen und Stealthing als "der Vergewaltigung nahestehend". Eine weitere Interview-Partnerin erzählte: "Ganz klar war der Teil, der mich wirklich ausrasten ließ, jener, als der Verstoß gegen das, auf was wir uns geeinigt hatten, passierte. Ich habe eine Grenze gesetzt. Das war sehr eindeutig."

Auch im Internet recherchierte die US-Amerikanerin – dabei stieß sie auf Foren, in denen sich Männer über die besten Techniken, Kondome unbemerkt zu entfernen, austauschen. Derartige Portale erfreuen sich immer größerer Beliebtheit, die Community wächst. Dort wird Stealthing als "Recht des Mannes" festgeschrieben, als Recht "das männliche Sperma zu verbreiten". Dabei sei auffallend, dass Männer ihre Legitimation für derartige Handlungen aus einer männlichen Überlegenheit ziehen, die ihnen zufolge evident ist.

Im Interview mit der Huffington Post sagte Brodsky, dass sie sich dem Phänomen angenommen habe, weil sie in ihrem Umfeld immer öfter damit konfrontiert wurde. So wandten sich unter anderem immer mehr Freundinnen an sie, die in ihren Geschichten Erfahrungen schilderten, die "nicht Teil des anerkannten Repertoires geschlechtsspezifischer Gewalt waren, aber in demselben Frauenhass und derselben Respektlosigkeit verwurzelt schienen".

Scham und Schaden

Für die Opfer bedeutet Stealthing unterdessen nicht nur ein physisches Risiko – die Ansteckungsgefahr für Geschlechtskrankheiten wie beispielsweise HIV oder die Gefahr einer ungewollten Schwangerschaft sind ohne Kondom nicht gebannt – sondern auch die Konfrontation mit der Scham und psychischem Leid, die mit sexuellen Übergriffen verbunden sind. Schließlich handelt es sich bei der Praktik um nichts anderes, als einen sexuellen Übergriff ohne Einwilligung des Partners.

Brodsky, die mittlerweile als Juristin im National Women's Law Center, einer Non-Profit-Organisation, die sich für die Rechte von Frauen und Mädchen einsetzt, arbeitet, bemerkte im Laufe ihrer Recherchen, dass die betroffenen Frauen zwar wussten, dass ihnen Unrecht widerfahren sei, sie hatten jedoch "nicht das Vokabular", um diese Ungerechtigkeit in Worte zu fassen.

Geschlechtsspezifische Gewalt

Für Bordsky stellt Stealthing einen Akt geschlechtsspezifischer Gewalt dar, der eine Reihe von Gesetzen bricht. In ihrem Forschungsbericht nennt Brodsky daher auch juristische Handlungsoptionen, auf die sich Betroffene berufen können. "Überlebende erleben echten Schaden – emotionalen, finanziellen und körperlichen – gegen den das Gesetz in Form von Schadensersatz oder der Möglichkeit Gerechtigkeit zu erfahren etwas tun kann", schreibt Brodsky, auch wenn die Realität derzeit noch anders aussehe.

In den USA gibt es für derartige Übergriffen bereits eine Definition: "reproductive coercion", zu Deutsch "reproduktive Nötigung". So definiert die US-amerikanische Verband der Hebammen und Gynäkologen laut Refinery 29 reproduktive Nötigung als Verhalten, das nicht nur "die eindeutigen Versuche den Partner gegen seinen Willen zu schwängern, beinhaltetet". Auch Versuche den Partner zum ungeschützten Geschlechtsverkehr zu zwingen oder Methoden der Empfängnisverhütung zu beeinflussen, werden darunter subsummiert. Oft kommt es im Zuge von häuslicher Gewalt zu derartigen Handlungen, die auch Kontrolle und Macht demonstrieren sollen.

Auch in Europa brach nach dem eingangs erwähnten Urteil von Lausanne eine Diskussion über Stealthing aus. In Schweden gilt Sex ohne Kondom gegen den Willen der Frau ebenso als Vergewaltigung. Dieser Vorwurf wurde etwa gegen Wikileaks-Gründer Julian Assange erhoben.

Mit ihrer Studie zum Thema schlägt Alexandra Brodsky jedenfalls Wellen. Seit der Veröffentlichung des Dokuments am 20. April haben sich zahllose Medien der Thematik gewidmet. Aufmerksamkeit und ein verstärktes öffentliches Interesse hat sie mit ihrer Arbeit damit also in jedem Fall generiert.

*Generell gibt es keine einheitliche Definition des Rechtsbegriffs der Vergewaltigung, die juristische Bewertung ist je nach Land unterschiedlich. In Österreich ist die Vergewaltigung im § 201 StGB (Strafgesetzbuch) unter Strafe gestellt. Neben dem Straftatbestand der Vergewaltigung gibt es ergänzend den § 202 StGB Geschlechtliche Nötigung.

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