Lust am Lesen: Wie uns Bücher verändern
Das Knarzen des geklebten Buchrückens, der Geruch frisch bedruckter Seiten, das raue Papier zwischen Daumen und Zeigefinger: Mit seiner unverwechselbaren Haptik ist das gedruckte Buch einzigartig – sein Genuss für viele Menschen ein besonderes Erlebnis.
Dennoch verbringt das Gros der Bevölkerung mittlerweile sehr viel mehr Zeit vor hell erleuchteten Computer-, Tablet- und Smartphonebildschirmen als damit, ihre Nase in Bücher zu stecken.
Knapp dreieinhalb Stunden wird hierzulande täglich durchschnittlich gesurft, gechattet und gestreamt (Mobile Communications Report 2018). Zum Vergleich: Pro Jahr durchschmökern die Österreicher laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Spectra im Schnitt 3,7 Bücher.
Pumpten früher fesselnde Erzählungen Adrenalin durch den Körper, sind wir heute in sozialen Netzwerken nahezu permanent auf der Suche nach dem nächsten Dopaminrausch. Weggedöst wird vor Netflix, nicht mit dem neuen Lieblingsroman auf der Brust.
Und sie lesen doch
Angesichts der fortschreitenden und unbestritten omnipräsenten Digitalisierung ist vor allem die Sorge um junge Leser groß. Eine nachvollziehbare Befürchtung, Lydia Grünzweig, Geschäftsführerin des Österreichischen Buchklubs der Jugend, gibt dennoch Entwarnung: "Junge Menschen lesen heute nicht weniger als vor einigen Jahren, aber sie lesen anders. Durch das Lesen digitaler Inhalte ändern sich Seh- und Lesegewohnheiten und die Art des Lesens hat sich den vielen Medien, die wir tagtäglich nutzen, angepasst."
Von einer umsichgreifenden Buchverdrossenheit könne keine Rede sein: "Studien zur Mediennutzung in Österreich belegen, dass Kinder und Jugendliche tatsächlich genauso gern zum Buch greifen, wie noch vor 20 Jahren."
Bedenken gibt es in Expertinnenkreisen allerdings in puncto Lesekompetenz. "Echte Sorgen mache ich mir um die Lesefähigkeit. Es gibt viele funktionale Analphabeten. Diese Menschen kommen natürlich durchs Leben, das Lesen von Büchern ist für sie aber enorm anstrengend und frustrierend", schildert die deutsche Journalistin, Hörbuchsprecherin und Buchexpertin Lydia Herms.
Vom Wert einer umfassenden Lesekompetenz – gerade in Zeiten immer vielfältigerer medialer Angebote – ist auch Grünzweig überzeugt: "Sonst ist man auch von der sinnvollen Nutzung der digitalen Medien ausgeschlossen.
Das Lesen langer Texte ist eine Form des Lesens, die rasche Informationsaufnahme in sozialen Netzwerken, einem Chat oder in einer Suchmaschine eine andere. Und es braucht Strategien, diese beiden Dinge zu verknüpfen."
Wohltuender Denksport
Für "richtiges", also vertieftes und längeres Lesen gibt es mehr als genug gute Gründe: "Umfassendere Texte zu lesen ist wichtig, um unsere Konzentration und unser Gedächtnis zu trainieren und unseren Wortschatz aufzubauen", erklärt Grünzweig. Nebenbei trage es dazu bei, den eigenen Horizont zu erweitern, die Fantasie zu bedienen, innezuhalten, Gelesenes zu reflektieren und der Realität für eine Weile zu entfliehen.
Auch die Wissenschaft attestiert dem Lesen förderliche Effekte: Es steigert Intelligenz und Empathie, kann die Entwicklung von Demenzerkrankungen hinauszögern und sogar widerstandsfähiger gegen psychische Erkrankungen machen. Forscher der renommierten Yale University fanden gar Hinweise darauf, dass Lesen das Leben verlängern könnte.
In ihrer Untersuchung zeigte sich: Wer über mehrere Jahre hinweg mindestens eine halbe Stunde pro Tag ein Buch las, lebte im Durchschnitt zwei Jahre länger – im Vergleich zu Studienteilnehmern, die gar nicht oder nur Zeitungen lasen. Dabei war es unwesentlich, ob die Probanden Romane oder Sachbücher, Lyrik oder Prosa bevorzugten.
Noch bemerkenswerter war, dass diejenigen, die mehr als drei Stunden pro Woche Bücher lasen, eine um 23 Prozent geringere Sterberate aufwiesen als Probanden, die nur Zeitungen oder Zeitschriften lasen. Dass hierzulande bald wieder mehr Menschen von diesen Vorteilen profitieren könnten, zeigen aktuelle Zahlen des Hauptverbandes des Österreichischen Buchhandels.
Branche im Aufwind
Nach einem leichten Umsatzminus im vergangenen Jahr steuert der Buchhandel heuer auf ein deutliches Gesamtjahresplus zu. Und das, obwohl das wichtige Weihnachtsgeschäft noch bevorsteht. Rund 17 Prozent aller Umsätze werden in dieser Zeit generiert.
Diese Entwicklung ist alles andere als selbstverständlich. Denn das gedruckte Buch hat bereits vor längerer Zeit Konkurrenz bekommen. Als Amazon-Chef Jeff Bezos vor fast genau zwölf Jahren ein weißes, 300 Gramm schweres, elektronisches Lesegerät vorstellte, ging ein Raunen durch die Buchbranche. Mit dem ersten Kindle von Amazon erreichte die Digitalisierung damals den Buchhandel.
Der offensichtlichste Vorteil von E-Books liegt darin, dass es möglich ist, sehr viele Bücher ständig bei sich führen und lesen zu können. Manche Lesegeräte können bestimmte Bücher vorlesen. Wird das Auge müde oder das Licht schlecht, genügt es, bequem die Vorlesefunktion zu aktivieren.
Quasi alle E-Book-Gadgets erlauben zudem, die Schriftgrößen individuell einzustellen. Davon profitieren Menschen mit nachlassender Sehkraft oder einer Sehbehinderung. Aus heutiger Sicht dürfte dennoch klar sein: Das E-Book hat das Buch nicht ersetzt. Der Marktanteil in Österreich liegt seit Jahren konstant bei rund zwei bis drei Prozent.
Ergänzt statt verdrängt
Und wie sieht es mit anderen, alternativen Buchformen aus? "Hörbücher sind gerade für Kinder eine tolle Ergänzung, um Geschichten aus Büchern zu transportieren", sagt Grünzweig. Für schwächere Leser könnten sie zudem eine Brücke sein, ein Buch ganz durchzulesen.
"Die Vorlesesituation mit einer Bezugsperson können sie aber nicht ersetzen, hier laufen neben dem Hören der Geschichte auch andere, sozial wichtige Prozesse ab." Der Anteil der verkauften Hörbücher am Gesamtmarkt betrug im Jahr 2018 zwei Prozent – im Vergleich zum Vorjahr ein Minus von 10,1 Prozent.
Die Verkaufszahlen bei den klassischen, physischen Hörbüchern sind damit rückläufig. Hingegen wachsen die Umsätze vor allem bei digitalen Plattformen und Streaminganbietern. Ähnlich wie in der Musikbranche mit Spotify, Apple Music und Co. hält die Idee des digitalen Abonnements immer mehr im Buchhandel Einzug. Eine große Verdrängung droht aber auch von dieser Front nicht.
Für Herms ist es ohnehin weniger die wachsende Bandbreite an Leseangeboten, die das Buch potenziell bedroht. "Die größten Konkurrenten sind meiner Meinung nach Ungeduld, Erwartungsdruck und die ständige Verfügbarkeit von Vorgekautem – und schlechtes Fernsehen."
Auch Grünzweig zufolge tritt das Buch heutzutage primär mit dem schier unendlichen Unterhaltungsangebot in Wettbewerb. "Online-Videos, das Internet, die Smartphonenutzung, digitale Spiele oder Streamingdienste rangieren in der Liste der Medienbeschäftigung in der Freizeit vor dem Buch, dennoch ist das Lesen von Büchern für rund 40 Prozent der jungen Menschen eine regelmäßige Freizeitbeschäftigung. Ich glaube daher, dass wir Büchern zutrauen sollten, dass sie auch in Zukunft ein wichtiges Medium für das Lesen sein werden." Stichwort Unterhaltung: Für den Buchhandel bietet etwa die Verschränkung von Film und Buch auch Vorteile: "Denn jede Verfilmung befördert auch das gedruckte Buch", betont Grünzweig.
Alles in allem scheint sich der Büchermarkt also nicht in Richtung einer Loslösung von gedruckten Werken zu bewegen, sondern eher dahin, in Zukunft möglichst komfortable Plattformen für Hybridnutzer, also Konsumenten von E-Books, Hörbüchern und physischen Büchern, bieten zu können.
Lesevorbilder
Um die Lust am Lesen für kommende Generationen zu sichern, gilt es, Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, "zu erfahren, wie spannend es sein kann, ein Buch zu lesen, sich auf eine Geschichte und deren Protagonisten einzulassen und das Gelesene in der Fantasie zum Leben zu erwecken", erklärt Grünzweig.
Gerade als Kontrapunkt zur Digitalisierung würden Jugendliche ohnehin immer wieder auch zu dicken Büchern greifen. "Analoges Lesen berührt einfach mehr Sinne, man sieht den Lesefortschritt besser – das motiviert", sagt die Expertin.
Auch Erfahrungen, die Kinder mit dem Lesen von klein auf machen, prägen das spätere Leseverhalten. Entsprechend wertvoll seien lesende Eltern als Vorbilder, aber auch das gemeinsame Schmökern im Kindergarten und der Schule.
Davon Kindern von heute auf morgen dicke Wälzer aufzuzwingen, rät Herms ab: "Der Erwartungsdruck darf nicht zu hoch sein. Was spricht gegen einen Roman mit 100 Seiten, wenn er gut ist? Hier breche ich gerne eine Lanze für dünne Bücher."
Daran, dass die Liebe zum Gedruckten auch künftig bestehen bleiben wird, zweifelt Herms nicht. Das Lesen im Internet sei zwar kurzweiliger und unmittelbarer, Bücher hingegen lang und sperrig: "Und sie verlangen eine Menge Geduld, aber es wird immer Kinder und junge Erwachsene geben, die diese Geduld aufbringen werden, davon bin ich überzeugt."
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