Niksen: Die niederländische Kunst, nichts zu tun
Wann haben Sie das letzte Mal nichts gemacht? Nein, nicht Netflix-schauend auf dem Sofa gechillt, nicht mit dem neuesten Selbstoptimierungsratgeber im Garten entspannt, nicht auf der Strandmatte mit dem Lieblingspodcast im Ohr entschleunigt. Sondern wirklich rein gar nichts getan? Wir überspringen einfachheitshalber die Antwort (es ist wohl ohnehin schon länger her) – und legen Ihnen stattdessen "Niksen" ans Herz.
Niksen ist niederländisch, wörtlich übersetzt heißt es "herumhocken" oder "herumsitzen" und avanciert gerade zur neuesten Wohlfühlphilosophie. In ihrem Zentrum steht: das Nichtstun.
Populäre Lebensstilkonzepte aus dem hohen Norden kennt man ja bereits: Da gab es zuerst Hygge, dann Lagom; es folgten Sisu und Kalsarikänni (Erklärung siehe unten). Und nun also Niksen. Die Idee dahinter ist schnell erklärt. Stellen Sie sich dafür kurz Folgendes vor: Sie sitzen, gemächlich wippend, dem leisen Vogelgezwitscher lauschend im Schaukelstuhl auf einer Terrasse. Ohne Zweck, ohne Bestimmung, ohne Nutzen. Das Smartphone außer Hör-und Reichweite. Das ist Niksen.
Aktionslose Präsenz
Im ersten Moment erinnert die holländische Glückslektion an Achtsamkeit, die boomende Entspannungspraxis der vergangenen Jahre. Doch weit gefehlt. Beim Nichtstun à la Niksen geht es weder um frühmorgendliche Turbo-Meditation, noch um das möglichst effiziente Vorbeiwinken quälender Gedanken. Sondern um bloße, aktionslose Präsenz.
Im niederländischen Sprachgebrauch ist der Begriff keineswegs neu, aber erst seit Kurzem positiv konnotiert. Bis vor nicht allzu langer Zeit "wurden damit Faulenzer und Nichtsnutze beschrieben", sagt Carolien Hamming, Leiterin einer niederländischen Therapie-Einrichtung für Burn-out-Patienten, im Interview mit dem KURIER. Nun scheint Niksen rehabilitiert. "Wie in anderen westlichen Ländern haben auch in Holland viele Menschen mit Depressionen und Burn-out zu kämpfen. Ein Grund dafür ist, dass wir immer beschäftigt und permanent im Tun sind", sagt die Gesundheitspsychologin.
Nordische Wohlfühlformeln sind auch hierzulande populär. Ein Überblick.
Hygge
Behaglichkeit, getragen von großen Keramikhäferln, warmem Kakao, Kaminfeuer und Wollsocken – kurz: Hygge. Vor drei Jahren war das dänisch-norwegische Lebensgefühl plötzlich in aller Munde. Für Dänen und Norweger ist es das Herzstück ihrer Kultur. Hyggeliges findet sich nicht nur in Wohnräumen, auch kleine Cafés, Gartenpartys und Straßenfeste versprechen idyllische Gemütlichkeit.
Lagom
Abgelöst wurde Hygge von der schwedischen Zauberlehre Lagom. Maßvoll, aber nicht mittelmäßig leben, lautet das Credo dahinter. Lagom umfasst das genussvolle, ungehetzte Morgenritual und den selbstlosen Umgang mit Mitmenschen ebenso, wie die Abkehr von Konsumzwang und Ressourcenverschwendung. Belohnt werden Lagom-lebende mit Harmonie und innerem Gleichgewicht.
Sisu
Finnland, Heimat der Zehntausend Seen, leuchtenden Nordlichtern – und des Sisu. Letzteres beschreibt den finnischen Schlüssel zu Glück, Liebe und Erfolg. Eine präzise Definition sucht man vergeblich. Autorin Joanna Nylund umreißt es in ihrem 2018 erschienenem Buch „Sisu – die finnische Kunst des Mutes“ mit stoischer Entschlossenheit, Widerstandskraft, Tapferkeit, Willenskraft und Durchhaltevermögen.
Kalsarikänni
Die, für unsereins unaussprechliche, finnische Lebensphilosophie ist eine gängige Freizeitbeschäftigung. Sie umfasst, und das ist kein Scherz: das Trinken von Alkohol – zuhause – in Unterwäsche. Zur Beliebtheit beigetragen hat das gleichnamige Buch von Autor Miska Rantanen. Darin beschreibt er, wie Finnen mit Trinkgelagen dem skandinavischen Winter trotzen, der Außenaktivitäten undenkbar macht.
Rasten statt Hasten
Erst vor einigen Wochen erklärte die Weltgesundheitsorganisation Burn-out offiziell zur psychischen Erkrankung, ausgelöst durch "chronischen Stress am Arbeitsplatz, der nicht erfolgreich verarbeitet wird". Global gesehen leiden immer mehr Menschen an Angststörungen und/oder Depressionen. Von Letzterer waren 2015 weltweit rund 322 Millionen Menschen betroffen.
In einer Zeit, in der fast jede Handlung, jeder Zustand auf Leistung und Verwertbarkeit hin beurteilt werden, Stress wie eine Epidemie um sich greift und digitale Dauerbeschallung zum Alltag gehört, erscheint sinnhaftes Zeitverschwenden reizvoll und radikal gleichermaßen.
Aber haben wir – in einer Welt der Overperformer und des Leistungsdrucks – das Nichtstun schon verlernt? "Der Gedanke, dass man in einer Gesellschaft nur etwas wert ist, wenn man etwas leistet, ist stark in uns verankert. Niksen ist eine Herausforderung, eben weil wir es nicht mehr gewöhnt sind", sagt Hamming. Die Niederländer müssen es ein Stück weit wissen. Seit Jahren belegen sie, zusammen mit ihren Nachbarn aus Schweden, Finnland, Dänemark und Norwegen, die vordersten Ränge im Weltglücksreport. "Das liegt meiner Meinung nach vor allem daran, dass wir eine solides Sozial- und Gesundheitssystem haben, der Bevölkerung Bildungschancen offenstehen und die Arbeitslosenrate niedrig ist", sagt Hamming.
Antikes Dolcefarniente
Revolutionär ist die Kunst des Nichtstuns nicht. Begriffe dafür gibt es quer durch alle Kulturen. In Italien beschreibt beispielsweise das "Dolcefarniente" das "süße Nichtstun". In der Philosophie und Literatur werden dessen Vorzüge seit Jahrhunderten gepriesen. Aristoteles erklärte in einer seiner bedeutendsten ethischen Schriften einst: "Die Glückseligkeit scheint in der Muße zu bestehen." Er erfasste das Nichtstun als konträres Gegenstück zur Arbeit – als völlig zwecklose, aber höchst sinnvoll verbrachte Zeit.
Für den römischen Staatsmann Cicero galt jeder, "der sich nicht auch einmal dem Nichtstun hingeben kann", als unfrei. Die liebenswürdige und (vermeintlich!) nicht allzu geistreiche Kinderbuchfigur Pu der Bär prägte den Satz: "Nichtstun führt oft zum allerbesten Irgendwas." Und behielt recht. Psychologen und Hirnforscher konnten in Studien belegen, wie wichtig Momente des Nichtstuns sind: Sie fördern nicht nur die Regeneration und stärken das Gedächtnis, sie sind geradezu die Voraussetzung für Kreativität und Ideenreichtum.
Auch für Hamming liegen die Vorteile auf der Hand: "Niksen zwingt uns, innezuhalten. Unser Aktivitätslevel wird durch die Hektik des Alltags immer höhergeschraubt. Durch Niksen kann man den Erregungszustand wieder normalisieren und Langzeitschäden vorbeugen. Dafür reichen schon ein paar Minuten täglich, in denen man runterkommt."
Müßigsein als Business
Dass im Nichtstun auch ein Geschäft steckt, zeigen Projekte wie jenes des deutschen selbst ernannten Glücksprofis Jan Philip Johl. Der ehemalige Top-Unternehmer bringt seit einigen Jahren gestressten Managern auf seinem Hof in der hessischen Stadt Offenbach bei, wie sie effektiv nichts tun können. Workaholics blättern dafür stolze Summen hin.
Das Buch des deutschen Autors Björn Kern "Das Beste, was wir tun können, ist nichts" wurde vor etwas über drei Jahren zum Bestseller. Darin übt sich Kern in Gesellschaftskritik, stellt den Tätigkeitswahn infrage – und weist auf sein zerstörerisches Potenzial hin: "Heute wird nicht derjenige gesellschaftlich geächtet, der Dieselmotoren herstellt oder mit Land und Nahrungsmitteln spekuliert, sondern der, der zu Arbeitszeiten in Ruhe sein Bierchen auf der Parkbank trinkt. Letzterer richtet aber keinerlei Schaden an", erklärt er im Interview. Und er geht noch weiter: "Nichtstun hält sich keine Arbeitssklaven in Bangladesch und verursacht kein CO2. Es ist friedlich und umweltfreundlich."
Für den deutschen Autor ist Nichtstun mehr als nur ein Entschleunigungsmoment. Er sieht das größere Ganze: "Im besten Fall kann gelungenes Nichtstun die Gesellschaft wieder näher zusammenbringen. Aus dem sinkenden materiellen Wohlstand kann ein viel kostbarerer Zeitwohlstand entstehen."
Freudvolles Versäumen
Apropos Zeit – von der wir alle zu wenig haben, oder das zumindest glauben. Ist sie doch einmal im Überfluss vorhanden, wird sie gleich vollgepackt. Rasenmähen, Zimmerpflanzen umtopfen, Sport, das neue Lokal ums Eck ausprobieren, Fernreise, Heimaturlaub, Töpferkurs, Smartphone updaten, Brot backen, Bungee-Jumping – Socken nach Marie Kondo falten.
Aus dem Frust des ständigen Erlebniszwanges erwächst neuerdings die Lust daran, etwas zu verpassen. JOMO steht für "Joy Of Missing Out" – und beschreibt genau das: Die Freude daran, etwas zu versäumen. Vor allem bei Jüngeren scheint Rückzug wieder in zu sein: Man verzichtet auf den Afterwork-Event mit Kollegen, lässt die WG-Party sausen, schaltet sämtliche Gruppenchats stumm und das Handy auf Flugmodus.
Wer neu gewonnene Momente zum Niksen nutzen möchte, braucht Kern zufolge vor allem eins: Mut. "Man hört ständig, man sei faul, wenn man nichts tut. Das stimmt natürlich nicht. Nichtstun ist schön, macht aber sehr viel Arbeit. Schließlich geht es beim Nichtstun nicht nur darum, gar nichts zu tun, sondern langfristig die falschen Dinge auszulassen." Von Langeweile kann also keine Rede sein. Denn: "Nichtstun ist eine Aufgabe fürs ganze Leben."
Wie man durch Niksen der Erschöpfung entkommt – und worauf man dabei achten sollte – erklärt Ärztin und Psychotherapeutin Caroline Kunz.
Wie bewerten Sie den neuen Wohlfühltrend?
Ich kannte den Begriff "Niksen" bis vor Kurzem nicht, rate Patienten mit Erschöpfungssymptomen aber Ähnliches – oft noch bevor ich spezielle therapeutische Techniken anleite.
Wie profitiert die Psyche?
Die Seele mal baumeln zu lassen kann helfen zu lernen, sich von Reizen abzuschirmen. In der Freizeit eben kein Radio zu hören und den Fernseher bewusst nicht aufzudrehen. Viele Menschen schalten überhaupt nicht mehr ab, dabei wären Pausen so wichtig, um neue Kraft zu tanken.
Warum schadet uns das?
Aus der Forschung wissen wir, dass der Mensch rhythmisch funktioniert. Stress ist kein Problem, solange der Rhythmus von Anspannung und Entspannung eingehalten wird. Auf harte Arbeit muss also echte Regeneration folgen.
Wieso konnte Niksen zum Trend werden?
Weil der Bedarf da ist. Das Tempo und die Intensität unseres Lebens sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass etwa Burn-out-Syndrome zunehmen. Manche Menschen haben drei Handys am Nachtkästchen liegen – und leiden extrem darunter.
Hat Niksen Nachteile?
Es ist wichtig, dass der Kopf währenddessen nicht unaufhörlich dahin rattert. Wenn man in Grübelzwänge gerät und aus dem Gedankenkarussell nicht mehr aussteigen kann, sollte man sich professionelle Hilfe suchen.
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