Tote haben es im Leben einfacher

epa03308256 (FILE) A file photo dated 12 July 1998 shows train tracks leading to the goods station in Auschwitz, Poland. According to reports by a British tabloid newspaper on 15 July 2012, Laszlo Csatary, one of the most wanted Nazi war criminals, has been found in Budapest, Hungary. As a Hungarian police commander in 1944, Csatary is accused of having helped to organize the deportation of approximately 15,700 Jews to Auschwitz. EPA/JENS KALAENE
Im Roman "Der Schrecken verliert sich vor Ort" ist das KZ zur zweiten Heimat geworden.

Die große Psychologin Margarete Mitscherlich hat wenige Tage vor ihrem Tod im Juni 2012 das Nachwort geschrieben:
Monika Held nimmt mich mit an einen Ort, den ich ohne sie nicht betreten würde. Beschützt von ihr, wage ich diese Reise.“
Das trifft es so gut, dass hier gar nicht erst der Versuch unternommen wird, andere Worte für das Kommende zu finden.
Zumal das bloße Erzählen von „Der Schrecken verliert sich vor Ort“ ohnehin alle Kraft nimmt. Die Reise geht nach Auschwitz.
Und zwar immer wieder.

Bis folgender Satz völlig einleuchtet:

„Wer tot ist, hat es einfacher im Leben.“

Ein Überlebender aus Wien wird durch den Roman begleitet, ab dem 1. Auschwitz-Prozess 1964 in Frankfurt, bei dem er einer der 360 Zeugen war. Ein junger Kommunist war er gewesen. Im Widerstand war er gewesen. Glück hatte er gehabt. Bloß Glück. Heiner heißt er, und eine Frau namens Lena wird sich nach dem Krieg in ihn verlieben. Und ihn lieben.
Soweit das möglich ist. Denn ein Teil Heiners ist im Lager geblieben. Lena muss außen bleiben.
Auschwitz ist seine zweite Heimat. Das klingt irrsinnig. Darüber muss man nachdenken. Man kommt gar nicht zum Lesen vor Denken; und Trauern.

Knöchelchen

Fürchtet sich seine Lena bei einem Besuch zwischen den Baracken, dann sagt er:
„Du musst keine Angst haben, hier ist noch niemand ermordet worden.“

Heiner hat ein Glas in die Ehe mitgebracht, mit Knöchelchen. Die hat er nach der Befreiung in Birkenau entdeckt. Beim Abtransport waren sie vom Lkw gerieselt. Das Glas muss immer in Heiners Nähe sein. Heiner ist sehr mitteilsam. Jedem Gast zeigt er die Knöchelchen. Und er denkt nicht daran, dass es seine Frau stören könnte, wenn er die Fotos vom 10. Hochzeitstag ins Regal zu den Alben mit Auschwitz-Unterlagen legt.
Sie: „Dort wird unser Hochzeitstag zu einer Episode von Auschwitz.“
Seine Lippen zittern: „Meine Alben sind ansteckend wie eine Krankheit, willst du das sagen?“
... und im Schlaf schreit Heiner. Nachts sieht er zum Beispiel, wie einem Baby in Mutters Armen in den Kopf geschossen wurde.

Einer wie Heiner

Seinen polnischen Freunden aus der KZ-Zeit bringt er in den 1980er-Jahren, während Kriegsrecht galt, Lebensmittel. Lena hilft.
Und will nicht und kann nicht mithalten, wenn Heiner singt, ein Lied, zwo, drei.

Tote haben es im Leben einfacher
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Danach erzählt man einander zärtlich bei einer Flasche Wodka, wie das war, damals auf dem Baum, unten SS und Hunde.
Darüber kann man nur schreiben, wenn man einen wie Heiner gekannt hat.
Als die Hamburger Schriftstellerin Monika Held in Wien war, in der Buchhandlung Hartliebs auf der Währinger Straße, hat sie es bestätigt: Ja, sie kannte einen wie Heiner. Mit Knöchelchen. Nur die Liebesgeschichte ist erfunden. Er bat sie: „Vergiss uns nicht.“ Drei Jahre hat sie am Roman gearbeitet.

„Wer kauft solch ein Buch?“ fragt KURIER-Kollege H. „Wer tut sich das an?“

Hoffentlich jeder.

KURIER-Wertung: ***** von *****

Info: Monika Held: „Der Schreckenverliert sich vor Ort“ Eichborn Verlag. 271 Seiten. 15,99 Euro.

Die SS stellte einen Christbaum in Auschwitz auf. Man wunderte sich – bis nackte Häftlinge unter den Baum gesetzt und mit Wasser übergossen wurden und einfroren ...

Als Historiker der Hebräischen Universität in Jerusalem lehrte Otto Dov Kulka die Geschichte des jüdischen Volkes. Ein Holocaust-Forscher, der über seine eigenen Erlebnisse schwieg. Der „diese Dimension“ umgangen hat wie 1943/’44 die Haufen skelettartiger Leichen hinter den Baracken. Zehn war er, als er mit seiner Mutter nach Auschwitz transportiert wurde. Das Gefühl, das Gesetz der Auslöschung werde vollzogen, beherrschte alle, auch die Kleinen.

Tote haben es im Leben einfacher
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Kulka, 1933 in der Tschechoslowakei geboren, hat nach der Emeritierung jetzt doch noch seine „Kindheitslandschaften“ beschrieben: die Rauchwolken; die Lichter am Stacheldraht; die schwarzen Flecken während des Todesmarsches am Wegesrand, die alle einmal voll Leben waren. „Landschaften der Metropole des Todes“ sind nicht einfach Erinnerungen, sondern die schmerzende, vollkommene literarische Beschwörung des staunenden Kindes von damals ... das im KZ auch erstmals mit Kultur konfrontiert wurde: Kulka sang im Chor die „Ode an die Freude“, 300 m von den Krematorien entfernt.

KURIER-Wertung: ***** von *****

Info: Otto Dov Kulka: „Landschaftender Metropoledes Todes“ Übersetzt von N. Mkayton, A. Birkenhauer, I. Arroyo Antezana. DVA.188 Seiten. 20,60 Euro.

Tote haben es im Leben einfacher
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Ein Non-Profit-Projekt von renommierten amerikanischen Historikern: Möglichst viele, besonders Schulen, sollen es sich leisten. Ein Archiv ist dieses drei Kilo schwere Buch mit den 1800 Fotos: Ab 1933 dokumentiert es Jahr für Jahr, Monat für Monat die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden – und hat das Ziel: Man konfrontiert mit dem Tod, damit es Leben geben kann. Diese Chronik ist sehr genau, denn die Mörder selbst haben genaue Aufzeichnungen geführt. Sie ist unfassbar, und man verkraftet immer nur ein paar Seiten, weil Menschen sowieso schwer zu verkraften sind, und damals waren es viele überhaupt nicht.

KURIER-Wertung: ***** von *****

Info: Marilyn Harran und andere: "Die Holocaust Chronik" Übersetzt von Regina van Treeck. h.f. ullmann Verlag. 768 Seiten. 29,99 Euro

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