Zeitreise: Leben wie in den 30er-, 50er- und 70er-Jahren
„Die Geschichte hat Helden und Werkzeuge und macht beide unsterblich“, notierte dereinst die Autorin Marie von Ebner-Eschenbach. Etwas aber hat sie vergessen: Die Geschichte hat verschiedene Stile und Moden hervorgebracht – und auch diese überleben Jahre, ja oft sogar Epochen. Was für die Kunst gilt, gilt auch für unser Zuhause. Wer jetzt ein Wohnmagazin aufschlägt, kommt um den Begriff Mid Century nicht herum. Gemeint ist damit der Einrichtungsstil der 50er- und 60er-Jahre, der, nachdem er jahrelang in der Versenkung verschwunden war, Renaissance feiert.
Verwunderlich ist es nicht: Gerade in diesen beiden Epochen wurden Möbel gefertigt, die mit ihrer Harmonie noch immer berühren. Ihre Designs wirken nicht, als hätten sie schon 60, 70 Jahre auf dem Buckel, sondern sind up to date. Und so herrscht geradezu ein Run auf sie, Mid-Century-Interieur ist gefragter denn je. Auch die 20er- und 70er-Jahre erleben einen Aufschwung.
Von Hand gemacht
Auf der Veranda stehen, Hand in Hand, Margit und Martin Schwed, Gründer des Vereins Zeitreisen, der die Wirtshauskultur der 20er-Jahre wiederbeleben will. Sie trägt ein schwarzes Charleston-Kleid und ebensolche Spangenschuhe. Er eine weinrote Krawatte zu blütenweißem Hemd und dunkler Anzughose. Ein Gilet darf natürlich nicht fehlen.
Ihr Zuhause haben die Schweds selbst gebaut. Vorbild sind US-amerikanische Holzhäuser der Jahrhundertwende
Die Sonne lässt das satte Türkis strahlen. Die weißen Fensterrahmen und das warme Ziegelrot des Daches stehen in perfektem Kontrast zu der auffälligen Fassadenfarbe. Man fühlt sich ein wenig wie zu Besuch beim „großen Gatsby“, obwohl: „Schreib nicht, dass es bei uns aussieht wie in den Goldenen 20er-Jahren“, sagt Martin. „Diese Epoche war alles, nur nicht golden.“
Tiefe Liebe
Margit und Martin sind dem Jahrzehnt dennoch verfallen – und zwar so sehr, dass sie leben wie in den 20er-Jahren. Das zieht sich von der Kleidung bis zu ihrem Zuhause. Sie haben es eigenhändig erbaut. Als Vorbild dienten ihnen die US-amerikanischen Holzhäuser der Jahrhundertwende. „Das passt nicht ganz zusammen“, gibt Margit zu. „Aber der Einfluss des Bauhaus hat die Architektur der 20er-Jahre zu glatt gemacht, das gefiel uns nicht.“ Margits architektonischer Traum wäre überhaupt eine kleine Jugendstilvilla mit Freitreppe gewesen. „Aber das ist sich auf dem schmalen Grundstück einfach nicht ausgegangen“, sagt sie und lacht.
Martin öffnet die Haustüre und bittet ins Innere. Durch einen kleinen Vorraum gelangt man in den Wohn-Koch-Essbereich. „Hätten wir die Raumaufteilung nach dem Vorbild der amerikanischen Häuser der Jahrhundertwende gemacht, müsste jedes Zimmer für sich und abgeschlossen sein“, erzählt Martin. „Aber dafür sind wir einfach zu gesellig.“ Die Schweds laden gerne Gesellschaften in ihr Haus ein, Margit kocht dann für alle und möchte nicht abgeschieden in der Küche sein. „Der Herd ist eindeutig das Zentrum unseres Hauses“, sagt sie. Apropos Herd: Einen Gas-, E- oder gar Induktionsherd sucht man hier vergeblich. Mitten im Wohnzimmer steht ein gemauerter Herd, der mit Holz befeuert wird.
„Errungenschaften der Moderne brauchen wir hier nicht“, betont Margit. „Wir haben keinen Fernseher, keine elektrischen Haushaltsgeräte, nicht einmal einen Mixer.“ Sie macht eine kurze Pause, bevor sie zugibt, dass es eine Waschmaschine gäbe, aber: „Die ist zumindest aus den 50er-Jahren und läuft noch bestens.“ Auf dem Fensterbrett im Wohnzimmer versteckt sich noch ein weiteres modernes Gerät unter einem weißen gehäkelten Deckchen, ein Satellitenradio. Die Schweds hören nur Musik der 20er-Jahre und der einzige Sender, der diese Schiene bedient, ist nur so zu empfangen.
Über Jahre gesammelt
Auf den Kredenzen geben sich kleine Blechdosen, bauchige Vasen, Statuen, vergilbte Fotos und Hausrat vergangener Tage ein Stelldichein. Es sind Stillleben, liebevoll arrangierte Kunstwerke. Jedes Stück hier erzählt eine kleine Geschichte. „Das Speisezimmer haben wir zufällig bekommen“, erzählt Martin und streicht fast liebevoll mit der Hand über die Tischplatte. „Freunde haben uns gebeten, ob wir die Wohnung einer verstorbenen Tante für sie räumen könnten – und da ist es gestanden, versteckt unter den Stapeln Tausender Zeitungen.“
Das kleine Piano an der Wand ist hingegen aus einem aufgelassenen Stummfilmkino. Die beiden Vitrinen beim Eingang zum Wohnbereich stammen aus einer Verlassenschaft. Und das große Kreuz, das in einer Ecke hängt, hat Martin im Schutt eines Abrisshauses gefunden. „Ich bin zwar nicht gläubig“, sagt er, „aber das war doch pietätlos.“ Also findet sich im Haus der Schweds jetzt eben auch ein Herrgottswinkel.
Nicht alle Möbel sind Originale
Die Schränke unter der Fensterfront Richtung Veranda etwa hat Martin selbst gebaut. „Da hätte sonst nichts hingepasst, die musste ich maßtischlern“, erzählt er. „Aber das gesamte Holz, das ich dafür verwendet habe, ist alt.“ Denn wann immer Martin an einem alten Abrisshaus vorbeikommt, nimmt er brauchbare Baustoffe mit, die sonst auf einer Deponie enden würden. So fanden auch die blauen Kacheln vom Herd ihren Weg ins Haus der Schweds.
Die Ornament-Leisten knapp unter der Balkendecke sind natürlich ebenfalls nicht alt. Sie sind Margits Werk. „In einem alten Haus in Kritzendorf habe ich Original-Schablonen aus den 20er-Jahren gefunden“, erzählt sie voller Stolz. „Ich arbeite aber auch mit Vorlagen aus Büchern und schnitze mir die Schablonen selbst.“ Bis zu einer Stunde benötigt sie pro Meter – aber Leidenschaft kennt nun einmal keine Zeit.
Zeitsprung
Alles riecht noch ganz frisch. Die Handwerker sind nach monatelanger Arbeit gerade erst fertig geworden – sie haben Böden und Türen abgeschliffen, lackiert, ausgemalt und tapeziert. Jetzt steht Maria Maager überglücklich in ihren neuen Wohnung und fiebert dem Umzug entgegen. Sie wohnt noch gar nicht hier. Bevor sie das erste Mal hier schläft, möchte sie noch Details besorgen: Es fehlen noch eine Bogenlampe im Wohnzimmer, Bilder und Vorhänge. Besonders ins Auge stechen die farbenfrohen Tapeten, die das Herzstück der Altbauwohnung im 7. Wiener Bezirk verkörpern.
„Für mich war klar, dass ich Tapeten möchte“, sagt die 37-Jährige. Mit den Vintage-Möbelstücken, die ihr gut gefallen haben, hat sich als logische Folgerung der Stil der 50er-Jahre ergeben, da dieser gut zu den Tapeten passe. Gemeinsam mit einer befreundeten Innenausstatterin hat sie das Konzept erarbeitet und die Wiener Vintageläden nach Fundstücken durchstöbert, denn aus der alten Wohnung soll kein einziges Möbelstück mitübersiedeln.
Bunt und wild
Auch wenn eines der Zimmer in Pastellrosa ausgemalt ist, möchte Maria dennoch nicht, dass die Wohnung zu mädchenhaft erscheint. Wilde Muster und bunte Motive prägen den Wohnstil der Selbstständigen, der es wichtig ist, dass die Wohnung aufgrund der auffälligen Wandgestaltung luftig bleibt. „Es wäre verlockend, noch mehr Möbelstücke hinzustellen, aber ich habe mir gedacht, ich muss runterfahren“, sagt sie. Auf ihre Lieblingsstücke wie einen Original orangefarbenen Arne-Jacobsen-Stuhl von Lichterloh, eine Kommode des tschechischen Designers Jiří
Jiroutek und einen Luster aus der Glasfabrik ist sie besonders stolz. Da ist es auch nicht so schlimm, wenn man den Möbeln ihr Leben vor ihrem jetzigen Besitzer ansieht. „Die Vintagemöbel vermitteln Lebensgefühl, aber besonders die Lampen muss man aufwendig schrubben“, sagt die Wienerin lächelnd.
Auch wenn viele alte Möbel und Designerstücke den Flair der 50er-Jahre in die Wohnung holen, hat Maria auch einiges Neues und setzt dabei auf Mix and Match. „Man kann sich ruhig trauen, ein paar neue Sachen dazuzustellen“, sagt sie. Kleiderschrank, Boxspringbett und das Sofa sind beispielsweise neu, gliedern sich aber elegant in den Wohnstil ein. „Das macht es auch aus, wie bei der Kleidung: Man kann coole Sachen auch mit billigeren Stücken mischen.“
Die Vorliebe für die 50er beschränke sich bei ihr allerdings nur auf die Möbel, nicht auf Mode, Filme und Musik, meint die begeisterte FM4-Hörerin. Beim Geschirr experimentiere sie jedoch noch herum. Im alten Medizinschrank stehen so beispielsweise Teller der Mailänder Marke Rose e Tulipani mit bunten, orientalischen Mustern. Am Naschmarkt hat Maria einen alten Metallkorb gefunden, den sie als Obstschüssel verwendet.
„Mein Vater hat übrigens gelacht, als ich ihm erzählt habe, wie viel ich für den alten Medizinschrank bezahlt habe“, erzählt Maria. Ihr Großvater hätte genau so einen früher in der Ordination stehen gehabt – aber diesen schon lange durch einen modernen ersetzt. Wie viele andere Möbelstücke aus den 50ern, die Vintageliebhaber jetzt nur noch in speziellen Shops oder am Flohmarkt ergattern können.
Einweihungsfeier möchte Maria übrigens keine machen, dafür sind ihr die frisch tapezierten Wände zu schade. „Hier werden jetzt erwachsene, gesetzte Abendessen stattfinden“, sagt sie vorfreudig und zählt bereits die Tage, bis sich zu den stylishen 50er-Jahre-Möbeln auch Leben gesellt.
Langer Prozess
Es begann mit einer leeren Wohnung und endete als Gesamtkunstwerk. „Wenn man will, kann man meine Mutter als die erste Hausbesetzerin Wiens bezeichnen“, sagt Marina Klobučar und lacht. Sie kann sich noch ganz genau an den Tag erinnern. Als die Vorbesitzerin der 220 Quadratmeter großen Wohnung im vierten Bezirk auszog, packte ihre Mutter die Habseligkeiten der Familie zusammen und übersiedelte mit Sack und Pack in den dritten Stock. Das war in den 60er-Jahren. „Seither wohne ich hier“, sagt Marina.
Zunächst sei die Hausherrin zwar von der Nacht-und-Nebel-Aktion nicht erfreut gewesen, „aber sie hat uns die Wohnung überlassen.“ Die Theaterwissenschaftlerin erinnert sich noch an die Anfänge in ihrem neuen Zuhause. „Wir hatten kaum Möbel, daher war es vor allem leer“, erzählt sie. „Im jetzigen Musikzimmer habe ich an der Wand Tennis gespielt, weil nichts im Raum gestanden ist.“ Doch das sollte sich ändern – allerdings langsam, über viele Jahre. Als die Familie einzog, war Marina zehn Jahre alt. Als das Interieur fertig war, maturierte sie. Und diese Einrichtung ist bis heute unverändert – jedenfalls fast. Ein paar kleine Renovierungen musste es geben. Doch alles der Reihe nach.
Marinas Vater, Berislav Klobučar, reiste als Dirigent viel. Seine Frau Natalie, eine Pianistin, begleitete ihn. Bei einem Gastspiel in Argentinien wurde das Ehepaar zu einem Dinner in eine Privatwohnung eingeladen. Die Einrichtung beeindruckte Natalie zutiefst. Was sie nicht wusste: Sie stammte aus der Feder eines nach Buenos Aires emigrierten österreichischen Architekten. „Bei dieser Reise hat meine Mutter dann Hermann Loos, ein Halbbruder des berühmten Adolf Loos, kennengelernt“, erzählt Marina. „Die beiden waren seelenverwandt, hatten dieselben Vorlieben und denselben Geschmack.“ Und so kam es, wie es kommen musste. Hermann Loos übernahm den Auftrag, gemeinsam mit seinem Freund, dem bildenden Künstler Oswald Stimm, die Wiener Wohnung zu gestalten.
Wie bei James Bond
Hermann Loos griff tief in seine Trickkiste – natürlich dem Geschmack des Jahrzehnts entsprechend. So ließ er etwa die hohen Räume des Altbaus abhängen, allerdings nicht mit einfachen Decken, sondern mit kleinen Kunstwerken. Im Musikzimmer befindet sich etwa ein Plafonds, der ein Labyrinth in sich trägt. Im Vorraum besteht die Zwischendecke aus kunstvoll arrangierten Holzlamellen. „Meine Mutter hat immer gesagt: ,Hermann, du hast großartige Ideen, aber ans Putzen denkst du dabei nicht’“, erzählt Marina. Vieles, was der Architekt in seinem Gesamtkonzept vorgesehen hatte, gab es in den 70er-Jahren in Wien nicht. „Das beste Beispiel sind diese Vorhänge im Esszimmer“, sagt Marina und zupft sie ein wenig zurecht.
„Meine Mutter und Hermann sind für sie extra nach Italien gefahren und mit 200 Metern Seidenstoff im Kofferraum zurückgekommen.“ Die Dusche im Hauptbad hingegen wurde aus Dänemark importiert – sie ist in einem Stück aus Kunststoff gegossen, ein typisches Design der 70er-Jahre, das damals seinen Weg noch nicht nach Österreich gefunden hatte. Das Loos’sche Konzept sah auch zwei Lackwände vor, eine schwarze im Esszimmer, eine orangefarbene im Salon. Es dauerte lange, bis Marina in Wien einen Malermeister fand, der diese Technik beherrschte. Doch es war es ihr wert, denn Natalie war überzeugt von den Visionen und Ideen ihres Architekten und Freundes.
Berislav Klobučar verstand die Leidenschaft seiner Frau nicht. „Er wollte einfach nach Hause kommen und sich entspannen“, erzählt seine Tochter. „Aber er hat erkannt, wie wichtig meiner Mutter die Einrichtung war, also hat er es toleriert.“ Einmal kam ein Architekturjournalist zu Besuch und sagte, die Wohnung sähe aus wie aus einem James-Bond-Film. „Das hätte meinen Vater gefreut, denn James Bond hat er geliebt“, sagt Marina und lächelt. Sie selber hat ein zwiegespaltenes Verhältnis zu ihrem Zuhause.
„Meine Schulkolleginnen sind mit Biedermeiermöbeln oder altdeutscher Eiche aufgewachsen, dagegen kam mir unsere Wohnung kalt vor“, sagt sie. Auch heute schwankt sie zwischen Liebe und Missfallen. Aber sie weiß, dass das Interieur – noch dazu im Originalzustand – etwas Einzigartiges ist, etwas, das es zu erhalten gilt. „Es ist ein Unikat, damals wie heute“, sagt Marina. In zwei Jahren geht die Theaterwissenschaftlerin in Pension und gibt die Wohnung auf. Wenn sich keine Institution findet, die sie als Ensemble bewahren wird, geht wohl auch ein Stück Kulturgeschichte für immer verloren.
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