Wiener Terrorprozess startet: Was den angeblichen Helfern vorgeworfen wird
Es war der 2. November 2020, als der Terror des IS auch in Österreich seine Spuren zog. Der 20-jährige Kujtim F. schoss in der Wiener Innenstadt wahllos um sich, tötete dabei vier Menschen. 23 weitere wurden zum Teil schwer verletzt.
Kujtim F. ist tot. Er starb durch einen Schuss der Sondereinheit WEGA. Er war ein Einzeltäter. Dennoch soll er im Vorfeld Helfer gehabt haben. Am 18. Oktober, fast zwei Jahre nach dem Anschlag, startet nun im Landesgericht für Strafsachen in Wien der Prozess gegen sechs mutmaßliche Unterstützer des Terroristen.
Eine Vorschau und ein Rückblick auf eine Tat, die ein ganzes Land erschütterte.
Was damals passierte, hat der KURIER auf die Sekunde genau nachvollzogen und für Sie als Video aufbereitet. Birgit Seiser und Daniel Jamernik haben die entscheidenden Minuten rekonstruiert:
1. Der Terroranschlag
Es war der Tag vor dem geplanten nächsten Lockdown. Ein besonders milder Novembertag. Viele Menschen nutzten den Abend, um sich noch einmal mit Freunden zu treffen. Die Lokale hatten die Schanigärten geöffnet. Im Bermudadreieck herrschte reges Treiben.
Der einschlägig vorbestrafte Kujtim F. hatte seine Tat genau geplant. Und er kündigte sie auch an.
Um 17.44 Uhr teilt er zwei Links mit Freunden auf Instagram. Die zweite Nachricht lautet: "Bald - so Gott will - werden wir es (Kalifat, Anm.) zurückbringen wie es ursprünglich war." Wenig später verlässt er seine Wohnung in der Wagramer Straße und macht sich zu Fuß auf den sieben Kilometer langen Weg in die Wiener Innenstadt. Das Sturmgewehr hat er zerlegt. Er transportiert es in einem Sackerl.
Um 19.26 Uhr postet er ein Foto von sich, auf dem er mit den später verwendeten Schusswaffen und einer Machete posiert. Wenige Minuten später trifft er am Schwedenplatz ein. Zuvor wirft er sein zurückgesetztes Handy noch in einen Mistkübel.
Um 19:59 Uhr gibt Kujtim F. die ersten drei Schüsse ab. Er feuert mit einem Sturmgewehr auf eine Personengruppe, die sich gerade auf der Jerusalemstiege befand. Sein erstes Opfer: Der 21-jährige Nedzip V., der mit Freunden zum Feiern in der Innenstadt war - er hatte gerade beim Bundesheer abgerüstet.
Kujtim F. läuft durch die Gassen des Bermudadreiecks, schießt auf jeden, den er sieht. Zwei Mal lädt er sein Sturmgewehr nach.
Der Attentäter, so stellten die Ermittler fest, kann insgesamt 80 Schüsse abgeben, ehe er selbst erschossen wird.
Insgesamt vier Menschen sterben in dieser Nacht. Doch auch die, die überlebt haben, sind traumatisiert.
2. Die Todesopfer
Der 21-jährige Nedzip V. ist das erste Ziel des Terroristen. Er wird von zwei Projektilen tödlich getroffen. Seine Großeltern waren einst aus Ex-Jugoslawien geflüchtet. Nedzip besuchte eine Schule in Korneuburg. "Er war ein lieber, sehr lustiger und aufgeweckter Typ", erinnert sich die ehemalige Schulleiterin.
Im Laufschritt bewegt sich der Täter weiter. Von der Judengasse gibt er weitre Schüsse in Richtung Ruprechtsplatz ab. Dabei wird die 24-jährige deutsche Kunststudentin und Kellnerin Vanessa P. getroffen und getötet.
"An diesem Abend habe ich nichts von ihr gehört. Da spürte ich, dass etwas Schlimmes passiert ist, weil sie sich sofort gemeldet hätte, um mich zu beruhigen", schilderte ihre Mutter später in einem KURIER-Interview. "Es ist ein Trost, dass wir wissen, dass sie keine Schmerzen hatte. Das hoffen wir jedenfalls", sagte ihre Schwester.
In der Seitenstettengasse wird die 44-jährige Gudrun S. sein nächstes Opfer. Sie hatte versucht, sich in der Nische eines Lokalfensters zu verstecken. Die Frau ist nicht sofort tot. Sie versucht, aufzustehen und zu flüchten.
Kujtim F. läuft zurück und schießt noch zwei Mal aus nächster Nähe auf sie, als sie am Boden liegt. Sie kann später zwar von der Polizei geborgen werden, stirbt aber gegen 22 Uhr in einem Krankenhaus.
Im Standard schrieb ihre Schwester, was Gudrun S. wohl gehandelt hätte, hätte sie es sich aussuchen können: "Sie hätte sich gewünscht, diesem jungen Menschen sicher vor Kugeln gegenübertreten zu können. Sie hätte ihn sicher ziemlich forsch angesprochen und gesagt: 'Hör sofort auf mit dem Scheiß, das ist doch Blödsinn. Leg die Waffen weg und setz dich her zu mir. Erzähl mir, was dich so wütend macht.'"
Am Franz-Josefs-Kai bemerkt Kujtim F. den Lokalbesitzer Qiang L. Der 39-Jährige will gerade die verglaste Türe seines Lokals von Innen versperren. Kujtim F. gibt aus kurzer Distanz mehrere Schüsse auf ihn ab und trifft ihn mehrmals. Eine Mitarbeiterin, die hinter Herrn L. steht, wird am rechten Arm und der rechten Schulter getroffen.
Herr L. war mit 17 Jahren mit seiner Frau nach Österreich gekommen. Gemeinsam hatte sich das Paar das kleine Restaurant aufgebaut. Er hinterlässt neben seiner Frau auch zwei Töchter. "Diese Lücke wird sich niemals schließen lassen", sagte seine Tochter Kexin zum KURIER.
Die Nacht hinterlässt auch tiefe Spuren in der Stadt. Wiens Bürgermeister Michael Ludwig erinnert sich im Videointerview mit Josef Gebhard an die dunklen Stunden zurück:
3. Der Prozess
Am 18. Oktober startet der Mammut-Prozess gegen sechs mutmaßliche Unterstützer von Kujtim F. Bisher sind nur die Verhandlungstermine bis Februar ausgeschrieben, bis zu den Urteilen wird es aber wesentlich länger dauern.
Der Prozess wird unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen im Großen Schwurgerichtssaal im Landesgericht für Strafsachen in Wien stattfinden. Schon jetzt steht fest: Filmen und Fotografieren wird im Saal verboten sein.
Die Anklageschrift umfasst 117 Seiten. Darin werden die Vorwürfe gegen die angeblichen Helfer im Detail dargelegt. Die Beschuldigten im Alter von 22 bis 32 Jahren befinden sich in Untersuchungshaft.
4. Die angeblichen Helfer des Attentäters
Die Vorwürfe gegen die Männer im Detail:
Arijanit F. fuhr am 21. Juli 2020 mit dem späteren Attentäter in die Slowakei. Dort wollte Kujtim F. Munition für ein Sturmgewehr besorgen. Was allerdings misslang, weil er keine Lizenz dafür hatte. Die Fahrt in die Slowakei geschah nur einen Tag nachdem sich Kujtim F. mit mehreren Dschihadisten aus dem Ausland in Wien getroffen hatte. Das Treffen wurde vom Verfassungsschutz beobachtet. Eine Meldung aus der Slowakei an die heimischen Behörden verlief im Sand.
Ismail B. war seit Kindheitstagen mit dem Attentäter befreundet. Am Tag des Terrors war der 20-Jährige mit einem weiteren gemeinsamen Freund in der Wohnung von Kujtim F. Angeblich, um ein Buch zurückzugeben. Er gab später an, dass das Treffen nur im Stiegenhaus stattgefunden habe, Kujtim F. habe seine Freunde nicht in die Wohnung zum gemeinsamen Gebet eingelassen. Laut Anklage soll er allerdings dabei gewesen sein, als der Attentäter die letzten Vorbereitungen traf. Zudem soll er ihn zur Übergabe des Sturmgewehrs begleitet haben und ihn bei der Auswahl des Anschlagsziels unterstützt haben.
Burak K. war der zweite Freund bei der angeblichen Buch-Rückgabe.Er wurde im Jahr 2019 mit Kujtim F. zu jeweils 22 Monaten Haft verurteilt, weil die beiden gemeinsam nach Syrien ausreisen wollten. Beide wurden vorzeitig aus der Haft entlassen und bekamen Bewährungshilfe. Ihm wird nun vorgeworfen, dass er Kujtim F. bei seiner geplanten Flucht unterstützt habe, indem er ihm gefälschte Dokumente besorgt haben soll.
Hedayatollah Z. wohnte nach eigenen Angaben zuletzt bei Kujtim F. in der Wohnung. Seine DNA wurde auf den Waffen gefunden. Der 28-Jährige erklärt das durch das Teilen der Wohnung. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass er bei der Planung und Vorbereitung der Waffen half. Bereits mehrere seiner Familienmitglieder waren zum IS gereist.
Adam M. soll dem Attentäter die Waffen vermittelt und übergeben haben. Dafür sollen 3.000 Euro geflossen sein, er selbst dürfte eine Provision bekommen haben. Die Waffen selbst dürfte Kujtim F. von einem Mann aus Slowenien haben.
Ishaq F. war laut Anklage in die Abwicklung des Waffen- und Munitionskaufs verwickelt. Er soll auch von den Anschlagsplänen informiert gewesen sein. So soll Kujtim F. ihm bereits während der gemeinsamen Haft 2019 gesagt haben: Ich werde für Neuigkeiten sorgen. Wenn ich rauskomme, mache ich einen Anschlag."
5. Die Folgen des Anschlags
Schnell war klar, dass im Vorfeld des Terroranschlags etliche Fehler passiert waren. Eine Kommission unter der Leitung der Strafrechtlerin Ingeborg Zerbes wurde eingerichtet. Und die stellte fest, dass es vor allem Versäumnisse bei den Ermittlungen im Vorfeld gegeben hatte. Konkret bei der Informationsweitergabe zum späteren Attentäter: Kujtim F. war als Gefährder bekannt. Seine Slowakei-Reise blieb nicht unbemerkt, ein Verfassungsschützer konnte ihn auf dem Foto, das die slowakischen Behörden geschickt hatten, sogar erkennen. Dennoch versandete die Warnung innerhalb der Behörden.
Das BVT wurde mittlerweile aufgelöst. Die neue Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN) unterscheidet sich strukturell. Ein Teil ist für staatspolizeiliche Belange zuständig. Dieser Bereich ist für die "Gefahrenabwehr" inklusive Festnahmen und Vernehmungen zuständig. Die Informationen soll der getrennte Nachrichtendienst beschaffen.
Noch immer beschäftigt der Terroranschlag von Wien die Gerichte. Die Angehörigen von zwei Todesopfern hatten den Staat geklagt. Aus ihrer Sicht hätte der Anschlag verhindert werden können.
Die Familie von Nedzip V. wollte 120.000 Euro einklagen. Das Landesgericht für Zivilrechtssachen in Wien kam allerdings zur Ansicht, dass es keine rechtliche Grundlage für die Forderung gibt und wies die Klage ab.
Noch offen ist die Entscheidung bei der Klage der Hinterbliebenen von Vanessa P.
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