Terror-Nacht in Wien: "Lachend drehte sie sich um, dann war Vanessa tot"
Allein der Blick auf das Geburtsjahr 1996 führt einem den Wahnsinn, der am 2. November in Wien wenige Stunden vor dem zweiten Lockdown passierte, eindrücklich vor Augen: Vor wenigen Wochen wäre die Kunststudentin Vanessa Preger-McGillivray aus München 25 Jahre alt geworden. Erst im Oktober 2020 startete sie ihr Studium an der Angewandten. Sie jobbte am 2. November am Salzgries, war glücklich.
Doch dann traf ein Geschoß des Attentäters sie am Hals – ein Durchschuss. Versuche der Wiederbelebung scheiterten. Vanessa hatte keine Chance.
Von den Behörden und der Republik fühlen sich Vanessas Mutter, Sissy Preger-McGillivray, und Schwester Sabrina im Stich gelassen. Nun klagen sie die Republik, weil sie überzeugt sind, dass Behördenversagen für den Tod von Vanessa verantwortlich ist. In den vergangenen Tagen waren die Mutter und Schwester des Opfers in Wien. Der KURIER traf sie zum Interview.
Es ist ein Gespräch, das immer wieder kleine Pausen benötigt, weil Mutter und Schwester in Tränen ausbrechen. Sie sind schwer traumatisiert.
Über Vanessa und die Stunden nach dem Attentat zu sprechen, lässt die Hinterbliebenen durch ein tiefes Tal der Trauer und der Emotionen gehen.
KURIER: Frau Preger-McGillivray, vier Monate sind seit der Terrornacht vergangen. Wie groß ist Ihre Ohnmacht?
Sissy Preger-McGillivray: (spricht mit tränenerstickter Stimme) Die Ohnmacht holt mich jeden Tag ein. Wenn ich daran denke, was alles verhindert hätte werden können, wenn die Behörden mit offenen Augen hingeschaut und die Menschen ihre Arbeit richtig gemacht hätten, dann wäre der Anschlag zu verhindern gewesen. Dann hätte das Leben von Vanessa und den anderen Opfern weitergehen können und niemand wäre verletzt worden. Wenn ich mir das Versagen der Behörden bewusst mache, dann raubt es mir den Verstand (weint). Es ist für mich unvorstellbar, wie Menschen so ignorant sein können, Informationen nicht weiterzugeben, dass hier ein Mensch, ein Verblendeter, der auf Bewährung ist, Munition kauft. Für mich ist es nicht nachvollziehbar, dass er nicht wieder inhaftiert wurde. Das ist kein Versäumnis von nur einem einzigen Menschen, sondern da müssen ganz viele nicht hingeschaut haben.
Sie haben die Republik auf über 100.000 Euro Schmerzensgeld geklagt. Ist das Behördenversagen der Grund für die Klage oder die Enttäuschung, dass die offizielle Anteilnahme nach dem Attentat kaum vorhanden ist?
Preger-McGillivray: Von der Republik kommt gar nichts. Ich habe jetzt 3.800 Euro für das Begräbnis und 2.000 Euro Schmerzensgeld bekommen. Die Kosten für das Begräbnis haben mit der Überstellung nach Deutschland 14.000 Euro ausgemacht. Ganz anders, nämlich viel würdevoller und wertschätzender, ist die Reaktion der Universität für angewandte Kunst. Rektor Gerald Bast und Professor Hans Schabus haben gemeinsam mit der Stadt Wien einen Vanessa Preger-McGillivray-Preis für eine Abschlussarbeit aus der Studienrichtung bildendende Kunst ins Leben gerufen. Über jeden Schritt wurden meine Tochter und ich informiert. Daran könnte sich die Regierung und die Politik ein Beispiel nehmen, wie empathisch man mit den Hinterbliebenen umgehen kann. Der Gedenk-Preis soll an die Namensgeberin erinnern und das Potenzial, das in einem Kunststudium steckt, deutlich machen. Es ist gut, dass sich dadurch zeigt, dass nicht alles unter den Teppich gekehrt wird und so getan wird, als hätte Vanessa nie gelebt.
Diese Woche gab es nun endlich einen Termin mit Innenminister Karl Nehammer. Warum ist Ihnen die Anteilnahme des offiziellen Österreich so wichtig?
Preger-McGillivray: Dieser Termin fiel mir nicht leicht, aber die Verantwortlichen müssen mit dem Schicksal auch konfrontiert werden. Denn die Schicksale der Opfer dürfen nicht anonym bleiben. Nicht irgendwer ist gestorben. Nein! Unsere geliebte Vanessa wurde ermordet. Das Opfer soll ein Gesicht bekommen. Innenminister Nehammer war erstaunlich empathisch. Im Sechs-Augen-Gespräch mit ihm gewannen wir den Eindruck, dass er ehrlich gerührt und betroffen war. Für mich ist es wichtig, dass auch Österreich nicht anonym bleibt, sondern gerade durch seine offiziellen Vertreter zeigt, dass eine ehrliche Anteilnahme des Landes vorhanden ist.
Sie üben sehr viel berechtigte Kritik an den österreichischen Behörden. Aber müsste sich Ihre Wut nicht hauptsächlich gegen den Attentäter und seine Motive richten?
Preger-McGillivray: Es gelingt mir nicht, das so isoliert zu sehen. Da ist ein Verwirrter, der den Behörden bekannt war und ja, er hat geschossen. Aber auf der anderen Seite wurde ihm ja auch die Möglichkeit gelassen zu schießen. Ich bin unglaublich wütend über die Tat und unendlich traurig über das, was der Attentäter anrichtete. Die Motive für eine solche Tat sind mir unbegreiflich, ich kann sie nicht nachvollziehen.
Die Stadt Wien hat vor rund zwei Wochen einen Gedenkstein am Ort des Attentats errichtet, der für viel Kritik gesorgt hat. Haben Sie den Gedenkstein schon besucht?
Sabrina (Schwester): Von diesem Gedenkstein haben wir nur über Verwandte, die in Österreich leben, erfahren. Sie schickten uns ein Foto über WhatsApp mit der Frage: „Wusstet ihr, dass ein Gedenkstein errichtet wurde?“ Wir wussten nichts. Wir wurden nie von offizieller Seite kontaktiert. Niemand hat uns jemals kontaktiert, ob wir einen Namen auf dem Stein haben wollen oder nicht. Der Gedenkstein wurde einfach sang- und klanglos aufgestellt. Die Angehörigen waren nicht zur Enthüllung eingeladen.
Preger-McGillivray: Doch müssten bei dieser Zeremonie nicht in erster Linie die Angehörigen dabei sein und nicht nur die Wiener Stadträte?
Schaffen Sie es, den Ort des Attentats zu besuchen?
Preger-McGillivray: Wir waren diese Woche das zweite Mal am Salzamt und haben die Einschüsse an der Wand wieder gesehen.
Sabrina: Diese Löcher kann ich noch nicht sehen, da muss ich mich umdrehen (Vanessas Schwester kann die Tränen nicht zurückhalten und kann kaum weiter sprechen). Zu wissen, dass eines dieser Löcher von jener Patrone stammt, die den Durchschuss bei meiner Schwester verursachte – das ertrage ich einfach nicht.
Preger-McGillivray: Es war heute so einsam in dieser Gegend. Ich kenne dieses Grätzel vom Sommer. Ich habe Vanessa damals in Wien besucht, als sie am Salzamt schon jobbte. Der Platz war damals sehr belebt. Vanessa war so glücklich mit ihrem Job und dem bevorstehenden Studium an der Angewandten.
Welche Pläne für ihre Kunst hatte Vanessa?
Preger-McGillivray: Vanessa hatte eine Ausbildung zur Holzbildhauerin gemacht. Mit ihrem Werk „Drahtseilakt“ hat sie die Aufnahme an die Angewandte geschafft. Es war eine Ganzkörper-Installation, wo die Gliedmaßen nur durch Drähte verbunden waren. Bevor Vanessa nach Wien ging, verbrannte sie diese Skulptur an der Isar – als Abschied, um etwas Neues zu beginnen. Übrig blieb nur der Kopf, der nun in einer Bronze-Guss-Variante in der Universität für angewandte Kunst aufgestellt werden soll. Vanessa wollte sich als Künstlerin weiterentwickeln, mit Holz oder mit Zeichnungen. Sie hat wunderschöne Tuschezeichnungen gemacht.
Wie haben Sie nach dem Attentat erfahren, dass Ihre Tochter unter den vier Todesopfern ist?
Preger-McGillivray: Vanessa und ich haben täglich telefoniert. Der Kontakt war sehr eng, auch wenn wir räumlich getrennt waren. Aber ich war immer informiert, wo sie ist, was sie macht. An diesem Abend habe ich nichts von ihr gehört. Da spürte ich, dass etwas Schlimmes passiert ist, weil sie sich sofort gemeldet hätte, um mich zu beruhigen. Denn Vanessa wusste, dass ich mir unglaubliche Sorgen mache.
Sabrina: Als wir vom Attentat um 20:45 Uhr in den deutschen Nachrichten hörten, war Vanessa schon tot, was wir zu diesem Zeitpunkt nicht wussten. Wir haben dann auf ihrem Handy Sturm geklingelt.
Preger-McGillivray: (erzählt weinend) Bei der Polizei sind wir nicht durchgekommen. Ich habe die ganze Nacht gewartet, dass Vanessa anruft. Ab 6 Uhr morgens habe ich dann in Wien die Krankenhäuser durchgerufen. Aber auch da war sie nicht. Meine Schwester hat auch telefoniert. Sie ist dann bei der Kriminalpolizei gelandet und hat die Todesnachricht bekommen. Alle Informationen bekamen wir nur auf Eigeninitiative. Von der deutschen Polizei wurden wir erst 27 Stunden nach dem Attentat informiert. Die Kripo kam um 23 Uhr mit einem Kriseninterventionsteam und entschuldigte sich, denn sie wurden erst vor Kurzem von den österreichischen Behörden informiert. Da wussten wir schon, dass Vanessa unter den Todesopfern war.
Sabrina: Als die Eilmeldung aus Wien kam, habe ich sofort Mama angerufen und gefragt: „Mama, die Vanessa ist doch zu Hause?“ – „Ich weiß es nicht, ich muss sie anrufen“, sagte sie. Ich sah am TV-Bildschirm eine Handyaufnahme, die eine Person zeigte, die am Boden lag, und zwei Männer beugten sich über sie, um sie wieder zu beleben. Es war meine Schwester, was ich erst später erfahren habe. Dieses Bild verfolgt mich in meinen Träumen (sie macht eine Pause, weil sie kaum weiterreden kann). Das Bild bekomme ich nicht aus meinem Kopf.
Haben Sie einen Weg gefunden, wie Sie den Schmerz überwinden?
Sabrina: Ich versuche, wieder als Erzieherin zu arbeiten. Die Kinder wissen, dass ich ein „großes AUA“ habe, aber sie geben mir Kraft, weil sie so unbekümmert sind. Neben der Kraft, die mir mein Mann gibt, ist das mein großer Halt.
Preger-McGillivray: Ich habe noch keinen Weg gefunden und ich wäre auch nicht arbeitsfähig. Mein Körper ist auch nur begrenzt belastbar. Ich versuche, in der Natur Kraft zu finden. Dann besuche ich Vanessa am Grab und manchmal gibt sie mir Zeichen.
Sabrina: An Vanessas Baumgrab ist ein junger Ahornbaum gepflanzt. Sie liebte Holz so sehr. Vanessa kann jetzt mit dem Baum wachsen, denn sie selber kann es nicht mehr.
Preger-McGillivray: Zu ihrem Begräbnis kamen sehr viele Menschen, selbst ihre Kollegen vom „Salzamt“, darunter auch der Rettungssanitäter, der verzweifelt versuchte, Vanessa wiederzubeleben. Es war ihnen ein Bedürfnis. Die Stadt Wien und das Land Österreich waren nicht offiziell vertreten.
Sabrina: Vanessa hatte keine Chance. Es ist auch ein Trost, dass wir wissen, dass sie keine Schmerzen hatte. Das hoffen wir jedenfalls.
Preger-McGillivray: Vanessa hat sich lachend umgedreht, in diesem Moment soll sie die Patrone am Hals erwischt haben – und dann war sie tot.
Sabrina: Mama, Vanessa und ich hatten eine sehr enge Beziehung. Wir selbst sahen uns als ein Dreimäderlhaus. Wir sind liberal, unsere Familie ist Multikulti. Unsere Mutter erzog uns stets so, dass wir positiv in die Zukunft schauen. Wenn sich eine Tür schließt, dann wird sich eine andere öffnen. Bis zum 2. November hat das immer gestimmt. Jetzt ist alles anders.
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