Zeilingers Geheimnis: „Das Wichtigste ist die Intuition“
Die Freude könnte größer kaum sein: Am 10. Dezember 2022 wird dem Österreicher Anton Zeilinger gemeinsam mit dem US-Amerikaner John Clauser und dem Franzosen Alain Aspect in Stockholm der Nobelpreis für Physik verliehen.
Im Interview erzählt er, worüber er heute mit Albert Einstein reden würde, was sich in Schulen und an Universitäten ändern müsste und gegen welches Verbot er verstößt.
KURIER: Herzliche Gratulation zum Nobelpreis. Wie hat sich seit dem Anruf aus Stockholm Ihr Leben geändert?
Anton Zeilinger: (lacht) Als ich Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften war (von 2013 bis 2022; Anm.), war ich nicht Herr meines Kalenders. Und jetzt bin ich noch weniger als das. Seit vergangener Woche erhalte ich zahlreiche Einladungen zu allen möglichen Events und Vorträgen. Und ich habe an die 2.000 eMails bekommen und an die 1.000 SMS, worüber ich mich auch sehr gefreut habe.
Werden Sie diese Nachrichten alle noch beantworten?
Ja, irgendwann schon. Ich habe vor Kurzem mit einem Freund telefoniert, der ebenfalls Nobelpreisträger ist. Dabei habe ich ihn gefragt, wie er das bewerkstelligt hat. Er meinte, er sei erst nach Weihnachten dazu gekommen.
„In der Quantenoptik und Quantenphysik waren wir schon in den vergangenen 20 Jahren Weltspitze“
Ihr Nachfolger als ÖAW-Präsident, Heinz Faßmann, hat nach der Nobelpreisverkündung in Stockholm gemeint: „Das Forschungsland Österreich hat wieder an die internationale Spitze aufgeschlossen“. Sehen Sie das auch so?
In aller Bescheidenheit und Zurückhaltung: In der Quantenoptik und Quantenphysik waren wir schon in den vergangenen 20 Jahren Weltspitze. Wahrscheinlich hat er gemeint, dass diese Spitze jetzt mit dem Nobelpreis anerkannt wurde.
Sie bemühen sich seit Jahrzehnten zu vermitteln, worum es bei Ihrer Forschung eigentlich geht. Könnten Sie uns die Verschränkung in der Quantenphysik vielleicht noch einmal erklären?
Man macht Beobachtungen und Messungen von zwei Teilchen und stellt fest, dass sie identische Eigenschaften haben. Man würde normalerweise annehmen, sie sind eben mit identen Eigenschaften geboren worden – so wie identische Zwillinge mit derselben genetischen Information geboren wurden. Diese Erklärung funktioniert aber nicht bei verschränkten Teilchen. Sie sind identisch, wurden aber nicht mit diesen gleichen Eigenschaften erzeugt und unterhalten sich auch nicht miteinander. Dinge können also über eine große Entfernung zusammenhängen. Sie sind identisch, aber jedes einzelne Resultat ist rein zufällig.
Albert Einstein nannte die Implikationen der Quantentheorie eine „spukhafte Fernwirkung“. Was würden Sie ihm heute gerne sagen?
Einstein meinte, die Welt könne nicht so verrückt sein, es müsse eine tiefere Erklärung geben. Einstein hatte mit seiner Kritik recht, wenn man vom im Alltag üblichen kausalen Weltbild ausgeht. Ich würde sehr viel dafür geben, zu wissen, was er zur heutigen Situation sagt.
Wie schaffen Sie es eigentlich, so unersättlich nach Erkenntnis zu bleiben?
Das Wichtige in der Wissenschaft ist Begeisterung, Begeisterung und noch mal Begeisterung. Und immer das machen, was man gerne macht, was einen interessiert. Und wenn dann andere kommen – bei mir war das so – und sagen: Das, was ich vorhabe, ist nur eine Zeitverschwendung, denen habe ich geantwortet: Gut. Aber ich mache es trotzdem. Weil ich es spannend finde.
Finden Sie, das kritische Denken wird durch das heutige Schulsystem gefördert?
In der Schule wird aus meiner Sicht viel zu viel herumgeschult. Vieles hat sich so stark entwickelt, dass es die Inhalte behindert. Heute gibt es zum Beispiel ein Fach, das sich „Fachpädagogik für Physik“ nennt. Ein wenig Pädagogik braucht man als Lehrer, aber man sollte generell mehr Freiheiten haben, der Lehrplan muss dafür weniger detailliert und freier sein.
„Hochbegabte werden bei uns zu wenig gefördert. Das ist für ein Land wie Österreich eigentlich eine Katastrophe“
Fördern wir die Begabungen ausreichend?
Nein. Es sollte an Schulen und Unis einen Spezialweg für Hochbegabte geben. Diese Personen werden zu wenig gefördert. Das ist für ein Land wie Österreich, das nichts anderes hat als die Köpfe seiner Leute, eine Katastrophe. Die Hochbegabten werden von der Schule nicht einmal identifiziert.
Ist das an den Universitäten besser?
Was sicher fehlt, ist an den Universitäten ein spezielles Angebot, einen Track für Hochbegabte, die sich nicht erst den Bachelor oder Master holen müssen, sondern gleich mit der Dissertation beginnen können. Talente sollten viel schneller in der Spitzenforschung ankommen. Mich erinnert das an das Zitat von Lewis Terman, der war Professor in Stanford, der meinte: „Wenn Sie wollen, dass Ihr Leichtathletik-Team den Hochsprung gewinnt, suchen Sie nicht nach sieben Leuten, die ein Fuß hoch springen, sondern nach einer Person, die sieben Fuß hoch springt.“
Sie haben zahlreiche junge Forscher ausgebildet, wie erkennen Sie da Exzellenz, was macht das aus?
Na, das ist das Leuchten in den Augen, die Begeisterung. Und ich mache mir von jedem Kandidaten, von jeder Kandidatin ein persönliches Bild, das ist ganz wichtig. Ich hatte einmal eine Studentin, die in Schottland gearbeitet hatte, die kam zu mir als Doktorandin, und wir haben gemeinsam über ihre Doktorarbeit als theoretische Physikerin gesprochen. Ich habe ihr vorgeschlagen, sie soll ein Experiment aufbauen, doch sie meinte, das geht nicht, ihr traue niemand zu, dass sie auch nur einen Schraubenzieher halten könne. Also so ein typisches Negativbild von außen. Da habe ich ihr geantwortet: Ich traue es Ihnen zu, und das muss reichen. Und so war es dann auch, sie hat eine wunderbare Doktorarbeit geschrieben und ist jetzt Professorin.
Ihre Forschung erfordert ja offensichtlich sehr viel Denken weit über den Tellerrand, oft auch gegen die Intuition.
Ja, das habe ich von meinen Doktorvater Helmut Rauch gelernt. Der hat oft Ideen gehabt für neue Experimente, da war oft die Erklärung so was von falsch – aber die Idee war richtig. Das heißt, es gibt in unserem Kopf eine Quelle von Ideen, das läuft unbewusst ab, da weiß man nicht einmal, warum. Dem muss man vertrauen.
Wie wichtig ist es für einen Wissenschafter, der eigenen Intuition zu vertrauen?
Ich würde sagen, das ist das Wichtigste überhaupt.
Wissenschaft an vorderster Front ist auch das Überschreiten von Grenzen, haben Sie einmal gesagt, auch die Grenzen im Kopf. Tun Sie da auch manchmal Verbotenes?
Verbotenes? Naja, ich fahre schon manchmal zu schnell, das macht ja jeder. Aber ja, Grenzen haben schon einen gewissen Reiz für mich. Weil es den Diskurs auflockert. Wenn mir jemand erklärt, das sei so, deshalb müsse man das so machen, frag ich einfach: Warum. Und was passiert, wenn wir diese Grenzen überschreiten, da kann ja auch etwas Spannendes dabei herauskommen. Das steckt schon in mir, das habe ich vielleicht von meinen Vater, der ja Wissenschafter war.
Also haben Sie das schon in die Wiege gelegt bekommen?
Es wurde mir nie nahegelegt, aber es war klar, dass Naturwissenschaften offenbar was Interessantes sind. Das haben wir daran gemerkt, dass mein Vater oft am Sonntag gearbeitet hat, und dann musste absolut Stille sein, was bei uns Kindern, meiner Schwester und mir, nicht immer gut angekommen ist. Andererseits hat mir mein Vater einmal ein kleines Mikroskop hingestellt, und nur gesagt, ich soll mir damit anschauen, was ich will, ohne mich weiter zu leiten. Er hat mir nicht einmal erklärt, wie das funktioniert. „Da kommst du schon drauf“, hat er gesagt.
Im Jahr 1900 wurde in Großbritannien ernsthaft über das Ende der Physik diskutiert, da alles erforscht sei, nur Kleinigkeiten seien noch unklar. Dann kamen Max Planck und Albert Einstein, und das 20. Jahrhundert war dominiert von der Quantenphysik. Sind wir heute einem Ende der Physik schon näher?
Es gibt schon Forscher, die meinen, dass wir kurz vor Entdeckung der „Theory of Everything“ stehen. Aber da zitiere ich gerne meinen Freund Robert B. Laughlin, der in Stanford unterrichtet und 1998 den Physik-Nobelpreis bekommen hat. Mit dem habe ich über diese Frage diskutiert. Er antwortete: „Wenn jemand glaubt, dass das Ende der Physik kurz bevorsteht, dann exponiert er nur in aller Öffentlichkeit die Grenzen seiner Fantasie.“ Also ist die Antwort ein klares Nein.
Dabei wird weltweit sehr viel geforscht …
Naja, wir betreiben moderne Naturwissenschaften erst seit ungefähr 400 Jahren. Die Menschheit besteht in der jetzigen genetischen Komposition seit 200.000 Jahren. Da kann ja niemand behaupten, dass der Mensch in der kurzen Zeit alles herausgefunden hat.
Das Gespräch fand gemeinsam mit Kolleginnen der „Salzburger Nachrichten“ und der „Tiroler Tageszeitung“ statt.
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