Michael Ludwig: "Nichts bringt den Kanzler von seiner PR-Linie ab"
KURIER: Herr Bürgermeister, in Krisenzeiten wünschen sich die Bürger Stabilität in der Politik. Eine Koalition mit den Neos ist ein Experiment. Wie können Sie sicher sein, dass ein neuer Partner nicht für Unruhe in der Stadtregierung sorgt?
Michael Ludwig: Ich war immer bereit, das Miteinander in den Vordergrund zu rücken. Dessen ungeachtet ist es aber notwendig, dass man eine stabile Regierung findet, mit einem Regierungsprogramm, das auf die Herausforderungen, die es gibt, eingeht. Ich bin überzeugt, dass wir das zustande bringen. Damit mache ich auch die Tür auf für eine politische Zusammenarbeit – eine sozialliberale Koalition, die auch Potenzial für andere Teile Österreichs hat.
Sehen Sie die neue Koalition als Probelauf, ob sich SPÖ, Grüne und Neos in einer Regierung auf Bundesebene finden könnten?
Das war in der Bundesrepublik auch so der Fall. 1956 hat eine Koalition zwischen SPD und FDP in einem Bundesland dazu geführt, dass darüber diskutiert wurde, ob so eine Koalition auch auf Bundesebene tragfähig sein kann. 1969 wurde das dann mit der Koalition von SPD-Chef Willy Brandt mit FDP-Chef Walter Scheel auch so realisiert.
Also durch die Blume gesagt, heißt das "Ja". Mit dem Schachzug bringen Sie auch Unruhe in die Koalition auf Bundesebene, weil die Grünen jetzt mehr Kante gegenüber der ÖVP zeigen werden. War das Ihr Kalkül?
Das müssen sich die Parteien auf Bundesebene ausmachen. Für uns in Wien war oft nicht nachvollziehbar, was die Grünen auf Bundesebene alles akzeptieren. Von da her sind das Diskussionen, die die Partner auf Bundesebene zu führen haben. Aber Gesprächsstoff gibt es da sicher genug (sagt der Bürgermeister mit einem Lächeln).
Was schätzen Sie an Wiens Neos-Chef Christoph Wiederkehr?
Er ist ein sehr intelligenter, reflektierter junger Mann, der etwas verändern will und gezeigt hat, dass er sich in einer Stresssituation wie einem Wahlkampf bewähren kann.
Können Sie sich auch sicher sein, dass Wiederkehr Handschlagqualität besitzt und keine Alleingänge macht wie die Grünen ...
Das sieht man immer erst in der konkreten Situation. Ich lege da großen Wert darauf. Das erwarte ich mir immer, egal wer mein Gegenüber ist.
Die Neos pochen auf gläserne Parteifinanzen und eine Halbierung der Parteienförderung in Wien. Außerdem wollen sie ein Einkommensmonitoring im sozialen Wohnbau. Könnten das Knackpunkte für die Koalition sein?
Ich persönlich glaube, dass es noch wichtigere Themen gibt als die, die jetzt aufgelistet worden sind. Wir befinden uns in einer ganz schweren Krise, die das Gesundheitswesen fordert und Auswirkungen auf Wirtschaft, Standort und das Bildungssystem hat. Da gibt es große Themen, die man angehen muss – da geht es dann um die großen Schrauben, an denen man drehen muss. Ich habe schon im Wahlkampf angekündigt, dass ich um jeden Arbeitsplatz kämpfen werde, und dass wir auch weitere Schritte im Bildungssystem setzen wollen, weil gerade durch die Corona-Krise viele junge Menschen unter Druck kommen.
Wenn ich Ihre Aussage jetzt richtig interpretiere, dann dürfen die Neos nicht bei der Transparenz, sondern im Bildungssystem ihre pinke Handschrift hinterlassen ...
Die Neos haben viele interessante Themen, Bildung ist eines davon. Bildung ist auch uns wichtig. Die SPÖ hat mit Beginn des heurigen Schuljahres die kostenfreie Ganztagsschule an 70 Standorten eingeführt und wird pro Jahr zehn weitere Standorte schaffen.
Ab Dienstag tritt der Lockdown in Kraft. Halten Sie einen zweiten Lockdown für notwendig?
Die Beurteilung überlasse ich den Experten. Aber klar ist: Die Bundesregierung hat viel Zeit im Kampf gegen das Virus verloren, um sich im Wiener Wahlkampf parteipolitisch motiviert zu zeigen und gegen den Wirtschaftsstandort Wien zu mobilisieren. Wenn sie stattdessen die Zeit genutzt hätte, mit Experten ein entsprechendes Programm für den Herbst zu entwickeln, hätte sie frühzeitig Maßnahmen setzen können.
Die Bundesländer haben von den Lockdown-Verordnungen Samstagnacht erfahren. Haben Sie Ihren Unmut über dieses Verhalten Kanzler Kurz mitgeteilt?
Ich habe meine Kritik angebracht. Wenn man möchte, dass Entscheidungen mitgetragen werden, dann erwarte ich schon, dass man in den Entscheidungsprozess eingebunden ist. Das ist nicht zum ersten Mal nicht der Fall. Die Bundesländer dürfen nur noch als Claqueure agieren, die die Maßnahmen der Bundesregierung eigentlich nur mehr abklatschen können. Denn wie soll man sich einbringen, wenn der Verordnungsentwurf kurz nach Mitternacht kommt, und man erst eine Stunde vor der offiziellen Pressekonferenz mit dem Bundeskanzler sprechen kann? In Deutschland funktioniert die Kommunikation zwischen Kanzlerin, Bundesländern und Sozialpartnern auf einer ganz anderen Basis. Das würde ich mir für Österreich auch wünschen.
Wie hat der Bundeskanzler auf die Kritik reagiert?
Wie immer gar nicht. Nichts bringt den Kanzler von seiner PR-Linie ab. Es interessiert ihn die Meinung von SPÖ-Landeshauptleuten offenbar nicht.
Einen zweiten Lockdown kann sich Österreich nicht leisten, war die Meinung sämtlicher Wirtschaftsexperten im Sommer. Jetzt kommt ein zweiter Lockdown. Was bedeutet das für die Wiener Wirtschaft?
Das wird ganz gravierende Auswirkungen haben. Wir fordern von der Bundesregierung nicht nur Ankündigungen und PR-Maßnahmen. Die angekündigten Ersatzzahlungen müssen rasch und unbürokratisch bei allen großen und kleinen Unternehmen ankommen, und es darf in diesen Betrieben auch zu keinen Kündigungen kommen. Man hat das Gefühl, dass die Regierung vom Virus und der Entwicklung total überrascht wurde.
Hat aber nicht auch Wien geschlafen? Es wurde kein Personal für das Contact Tracing angeworben. Laut WHO benötigt eine Zwei-Millionen-Stadt wie Wien 700 Contact Tracing-Mitarbeiter. Wien hat jetzt knapp 500.
Wir haben das Personal aufgestockt und sind im Unterschied zu anderen Bundesländern nicht in die Situation gekommen, dass wir das Contact Tracing nicht mehr ausüben konnten. Alles kann natürlich besser sein. Daher hätte es vielleicht nicht geschadet, wenn die Bundesregierung gemeinsam mit dem Bundesländern diskutiert hätte, wie man sich hier aufstellt.
Es wird eine Ausgangssperre zwischen 20 und 6 Uhr Früh verhängt. Ist diese Maßnahme, die wieder einen Eingriff in die Grundrechte darstellt, noch verhältnismäßig?
Bei all diesen Maßnahmen muss man sich die Frage der Relation stellen: Welche Vorteile hat die Maßnahme in der Covid-19-Bekämpfung, und welche gesellschaftspolitischen Auswirkungen gibt es? Da würde mich interessieren: Wie wissensbasiert werden diese Entscheidungen getroffen, die ein ganz schwerwiegender Eingriff in die Privatsphäre sind? Kann man wirklich davon ausgehen, dass, wenn die Menschen mehr auf den privaten Bereich zurückgeworfen sind, die Kontakte automatisch reduziert werden? Oder besteht nicht die Gefahr, dass die Bürger auf zu engem Raum zusammen kommen?
Vor dem Rathaus wird der Christkindlmarkt aufgebaut. Kann der der dieses Jahr noch stattfinden?
Auf Grund der Verordnung der Regierung fällt er zumindest im November aus. Was im Dezember ist, werden wir noch sehen.
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