Ischgl: Frust im verwaisten Skidorf
Es scheint Licht am Ende des Tunnels. Zumindest jenes Tunnels, der das Zentrum von Ischgl mit den Talstationen von zwei der drei großen Seilbahnzubringer des Skigebiets verbindet. In der Röhre ist nur das leise Surren der Rollsteige zu hören, die am Donnerstag dieser Woche eigentlich die ersten Skifahrer befördern hätten sollen.
Doch der für 26. November geplante Saisonstart fiel dem Lockdown zum Opfer. Ob der neue Termin am 17. Dezember hält, steht in den Sternen. „Vor Weihnachten passiert da gar nichts“, sagt ein Pensionswirt in der Mitte des Dorfs, in dem gähnende Leere herrscht und in dem der Schatten der Skiberge für eisige Temperaturen sorgt.
Der erste Skitag zieht in der Regel 15.000 bis 17.000 Gäste in den Ort, der am ursprünglich geplanten Starttermin die Anmutung eines Geisterdorfs hat. „Das sind wir gewohnt“, sagt der Zimmervermieter. Das trifft freilich nur auf die Zeit zwischen Ende der alten und Anfang einer neuen Wintersaison zu. Der Ischgler übt sich in Galgenhumor: „Aber die weißen Bandl’n schauen eh nichts gleich.“
Beschneite Pisten
Auf den Hängen rund um den Ort dominiert herbstliches Grün-Braun. Doch auf den Pisten haben die 1.100 Schnee-Erzeuger im Skigebiet ihre Arbeit getan. „Wir hätten einen Skibetrieb gewährleisten können“, sagt Günther Zangerl, Vorstand der Silvretta Seilbahnen in seinem Büro.
Unten im Gebäude, das die Mitte des Orts prägt, wie es in anderen Alpendörfern die Kirche tut, hängen die Gondeln im Dunkel der zentralen Talstation. Die sonst so geölte Maschinerie der Tourismuslebensader steht still.
Wann sie wieder ins Laufen kommt, hängt nicht nur vom Lockdown-Ende in Österreich ab, sondern ganz maßgeblich davon, wann wieder Gäste aus dem Ausland anreisen können. Jeder zweite Ischgl-Urlauber kommt aus Deutschland. Zangerl gibt sich keinen Illusionen hin: „Die Reisewarnungen werden wir nicht so schnell wegbekommen.“
Noch am Tag des Gesprächs mit dem Seilbahner werden sie sogar verschärft. In München macht Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) klar, dass nun auch Tagesausflügler, die zum Skifahren nach Österreich wollen, danach grundsätzlich in Quarantäne müssen.
Und wie so oft in den vergangenen Monaten, wenn Söder vor den Gefahren eines möglichen unkontrollierten Virusgeschehens warnt – diesmal explizit in Bezug auf Skiurlaube –, ist sein Schreckgespenst im Tiroler Paznauntal verortet: „Halb Europa ist im Frühjahr von Ischgl aus mit infiziert worden.“
Synonym für Hotspot
Tausende Infektionen gingen im März von dem Skiort aus, der sich dem Massentourismus verschrieben hat und damit ein perfekter Nährboden für das Coronavirus war. Das hängt nach. „Ich finde es unfair, dass Ischgl von Herrn Söder immer als Synonym verwendet wird“, ärgert sich Andi Steibl, Tourismus-Geschäftsführer des Orts.
Er gibt den Berufsoptimisten und geht „mit größter Wahrscheinlichkeit von einem Saisonstart im Dezember aus. Jetzt schon zu sagen, kein Winterurlaub ist möglich, halte ich für zu voreilig.“
Doch genau darauf drängen Italien, Frankreich und Deutschland. Sie wollen die Skigebiete in den Alpen bis nach Ende der Feiertage im Jänner geschlossen sehen.
„Wir hoffen auf eine Reisewarnung light“, gibt sich Steibl unverdrossen. Das hieße, dass Touristen zumindest mit einem negativen PCR-Test nach einem Skiurlaub nicht in die Quarantäne müssen. Ischgl hat bereits im Sommer eine Teststraße errichtet, in der sich Gäste im Winter bei der Anreise, aber bei Bedarf auch bei der Abreise testen lassen können. Um welchen Preis, steht noch nicht fest.
„Wir haben im März nicht gewusst, was auf uns zukommt. Aber aus den Erfahrungen des letzten Winters haben wir sehr viel gelernt und ein Maßnahmenpaket weit über den behördlichen Vorgaben erstellt, damit so etwas nie wieder passiert“, wird der 54-Jährige nicht müde zu erzählen und versichert: „Wir sind in diesem Winter einer der sichersten Orte.“
Skeptische Nachbarn
Die großen Nachbarländer Österreichs sehen im Skiurlaub hingegen vor allem eines: eine Gefahr, dass das Infektionsgeschehen wieder befeuert wird. In Deutschland lautet das Ziel, wieder auf einen Wert von unter 50 Infektionen pro Woche und 100.000 Einwohner herunterzukommen. Diese 7-Tage-Inzidenz ist auch der Maßstab für Reisewarnungen. In Tirol lag sie am Freitag bei 488,8.
In Ischgl gibt es aktuell keinen einzigen Corona-Fall. Fast jeder zweite Einwohner hat sich im vergangenen Winter – großteils ohne es zu merken – mit dem Virus infiziert und hat nun Antikörper.
Alexander von der Thannen ist einer von ihnen. Sein Unternehmen spiegelt die gesamte Bandbreite dessen wieder, wofür Ischgl in der Vergangenheit stand. Das Hotel des 49-Jährigen, das „Trofana Royal“, ist mit fünf Sternen ausgezeichnet. Im Restaurant des Hauses wird Haubenküche geboten.
„Ich biete alles außer Skifahren an“, sagt der Tiroler. Und dazu gehörte stets auch Après-Ski in der „Trofana Alm“ direkt hinter dem Hotel. Über eine Abzweigung der im Dorf endenden Talabfahrt wurden die Skifahrer direkt in das Lokal gespült, das neben der Halligalli-Bar auch Restaurant war.
Dort haben gerade die Handwerker das Sagen. Es wird geschraubt und gehämmert. Es ist das Anpassen an die neuen Zeiten. Die Zahl der Sitzplätze wird von 300 auf 400 erhöht. In diesem Corona-Winter, in dem Gäste nur am Sitzplatz konsumieren dürfen, wird die „Trofana Alm“ ausschließlich als Speiselokal geführt.
Ob das auch so bleiben wird, wenn die Pandemie wieder im Griff ist? „Wir haben immer getan, was der Gast von uns wollte. Wenn er danach wieder Après-Ski haben will, bekommt er es“, sagt von der Thannen. Die Hälfte seines Umsatzes hat der Unternehmer bisher in der „Trofana Alm“ gemacht, davon wieder die Hälfte nur mit Après-Ski.
Derzeit hat der Hotelier aber ohnehin andere Sorgen. Und zwar solche, die jeden in der Tourismusbranche umtreiben. „Wir brauchen Planungssicherheit. Die fehlt vollkommen“, sagt er. Neben der Frage, wann der Lockdown endet, treibt von der Thannen, der auch Obmann des Tourismusverbands ist, die Frage um: „Haben wir dann Gäste, die zu uns kommen können?“
Umsatzverluste
Derzeit liege der Fokus auf dem 17. Dezember als Starttermin. „Wir werden versuchen, einen Teilbetrieb im Skigebiet aufzumachen“, sagt er. In Ischgl, das auf frühe Saisonstarts getrimmt ist, machen die Hotels etwa 25 Prozent des Jahresumsatzes im November und Dezember. So ist es auch bei den Bergbahnen, die 20 Millionen Euro verlieren würden, wenn der Betrieb erst im Jänner losgeht.
Dass Ischgl aufgrund des Corona-Ausbruchs im März und den Folgen langfristig Schaden nimmt, glaubt von der Thannen nicht. „Wenn Fehler gemacht wurden, dann von den Behörden“, sagt er und antwortet auf die Frage, wann Ischgl wieder Umsätze und Gästeaufkommen der Vor-Corona-Zeit erreicht, wie aus der Pistole geschossen: „Im November 2021.“
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