Femizide: Neue Einblicke in ein äußerst brisantes Thema
Das Thema Frauenmorde und Femizide ist mehr als heikel. 39 Fälle soll es im Vorjahr gegeben haben, Österreich sogar die Spitze in Europa sein, heißt es mancherorts. Doch an beiden Feststellungen sind mittlerweile Zweifel angebracht.
Denn nun gibt es neue Untersuchungen, die die Hintergründe genauer analysieren und vieles in einem neuen Licht erscheinen lassen. Chefinspektor Egon Spiegl vom Bundeskriminalamt hat sein Psychologie-Studium dem Thema Frauenmörder gewidmet und dafür auch zahlreiche Zeugen sowie Polizisten befragt. Ein dreiköpfiges (rein weibliches) Team des Instituts für Konfliktforschung (IKF) hat über 100 Gerichtsakten durchforstet und jeden dieser Mord(versuchs)fälle ausführlich analysiert.
Die Ergebnisse beider Analysen sind jedenfalls mehr als überraschend und zeigen auch neue, bisher wohl völlig unterschätzte Problemfelder auf:
Zehn Morde, die keine sind
Fest steht, dass die 39 Morde aus der Bilanz tatsächlich die Anzeigen der Polizei aus der Kriminalstatistik widerspiegeln. Vor Gericht landeten am Ende "nur" 29 Morde, zehnmal erhärtete sich der Verdacht nicht. Da es sich bei einigen Fällen um Tötungen etwa von kranken Lebenspartnern oder auch gemeinsamen Suizid handelt, stuft Spiegl insgesamt 13 der 29 Taten als tatsächlichen Femizid ein, wie auch die Fachzeitschrift kripo.at berichtet.
Femizide sind Frauenmorde, wobei das Motiv allerdings vordergründig im Geschlecht des Opfers liegt. Laut IKF betrifft das 13 bis 23 Fälle jährlich.
Allein diese unterschiedlichen Zahlen zeigen, wie schwer ein seriöser Vergleich mit dem Ausland ist, da umgekehrt die Frage offen bleibt, wie dort eigentlich gezählt wird. Darauf weist auch das IKF hin, wobei das Institut Österreich in den vergangenen Jahren bei den (angezeigten) Frauenmorden leicht über dem EU-Durchschnitt sieht. Das deckt sich auch mit einem Faktencheck der Austria-Presseagentur. An der europäischen Spitze liegen zumindest andere Länder.
Die Zahl der Mordanzeigen schwankt stark zwischen 17 (im Jahr 2015) und 41 (2018), ist aber statistisch über das vergangene Jahrzehnt in Summe relativ konstant. Allerdings steigen vor allem die angezeigten Mordversuche an - um rund 50 Prozent. Und dies passiert speziell im engeren Familienkreis.
Mehr ermordete Mädchen
Wobei einige, teilweise besonders tragische Aspekte auffällig sind, die bisher noch überhaupt nicht Thema der Diskussion waren: Zugenommen haben vor allem Kinder als Opfer. Von früher einem Tötungsdelikt bei Mädchen unter 14 Jahren stiegen die Bluttaten auf mittlerweile sechs bis acht pro Jahr. Da die Täter hier oft die Mütter sind, verdoppelte sich beinahe auch der Frauenanteil bei den Mordverdächtigen laut IKF von rund sechs auf elf Prozent.
Legale Schusswaffen
Ein weiterer Grund für eine zeitweise erhöhte Zahl an Morden - vor allem zwischen 2017 und 2020 - war auch der verstärkte Einsatz von legalen Schusswaffen. Waren diese früher nur bei einem Viertel der Fälle im Einsatz, ist dies mittlerweile bei jedem zweiten Mord so.
Da Pistole und Gewehr besonders "effektiv" sind, ist auch das ein Grund für die erhöhte Mordrate der vergangenen Jahre - denn dadurch sind mehr Mordversuche "erfolgreich". Eine Diskussion über die aktuellen Waffengesetze wurden aber bisher nicht geführt.
Medial ständig ein Thema ist hingegen das Verhalten der Polizei. In zwei der 13 Fälle von Femiziden gab es unmittelbar zuvor ein Einschreiten der Exekutive, so Spiegl. In beiden Fällen hatte sich der häusliche Streit eigentlich beruhigt, auch die beiden Opfer forderten kein weiteres Einschreiten.
Zwar besteht die Gefahr des "Victim Blaming" (dabei wird den Opfern die Schuld an einer Tat zugeschoben), allerdings sind die Beamten hier auch auf Mithilfe der Beteiligten angewiesen. In einem Fall etwa wurden die Polizisten vom späteren Mordopfer sogar heftig aus der Wohnung hinauskomplimentiert.
"In der Gewaltspirale gibt es eben Ambivalenzen und auch schöne Phasen", warnte Opferexpertin und Anwältin Sonja Aziz kürzlich gegenüber dem ORF. "Dieses Wissen ist in der Justiz nicht verankert." Und weiter: "Jede Betroffene, die sich traut, ihre Geschichte zu erzählen, braucht nicht nur sehr viel Mut, sondern muss auch wahnsinnig gut rechtlich gebrieft sein."
Mehr Betretungsverbote
Fest steht, dass sich nur ein Bruchteil der Opfer zuvor an Betreuungseinrichtungen oder die Behörden gewendet haben. Das zeigen auch andere Untersuchungen, wonach nur rund 17 Prozent der Frauen, die von männlicher Gewalt betroffen sind, die Polizei einschalten. Das IKF sieht hier fehlendes Wissen der Opfer als Ursache.
Die Polizei hat jedenfalls die Zahl der Betretungsverbote ab dem Jahr 2019 stark erhöht, von davor rund 8000 pro Jahr auf knapp 14.000 (inklusive Annäherungsverbote). Dennoch waren bei lediglich vier Frauenmorden seit 2018 derartige Verbote aufrecht. 70 Prozent der Mörder haben auch keinerlei Vorstrafen, was die Einschätzung für die Beamten vor Ort im Vorfeld massiv erschwert. Wobei sich in vier von fünf Fällen bei den Ermittlungen nach der Bluttat herausstellt, dass es sehr wohl eine Gewalt-Vorgeschichte gab, diese aber nicht gemeldet wurde.
Da es allein in Wien elf Betretungsverbote täglich gibt, ist es für die Polizisten zur täglichen Routine geworden. Die Beamten "berichten häufig von einer Schieflage im Verhältnis zwischen dem hohen Arbeitsaufwand für die Bearbeitung eines Falles von häuslicher Gewalt und dem erreichten Ergebnis. Opfer lassen die Täter trotz Betretungsverbot wieder in die Wohnung, noch bevor die Fallbearbeitung abgeschlossen ist, oder bagatellisieren die Tat", erklärt der Chefinspektor.
Dienst nach Vorschrift
Abwehrendes Verhalten plus Alkoholisierung oder Beeinträchtigung durch Drogen bei Gewaltopfern führe zu der Gefahr, dass die einschreitenden Beamten auf "Dienst nach Vorschrift" umschalten.
Wobei die Polizei in Wien interessanterweise rund um die Uhr ein Beratungsteam für die Gefährdungs-Einschätzung der Gewalttäter zur Verfügung hat, andere Bundesländer wie etwa Niederösterreich oder Tirol die Beamten allein lassen mit der Entscheidung.
Opfer und Täter meist aus Österreich
Entgegen so mancher Berichterstattung sind die meisten Frauenmorde und -versuche (rund 70 Prozent) jedenfalls von Österreichern an Österreicherinnen. Greifen Ausländer zur Waffe, sind hingegen fast ausschließlich auch Ausländerinnen das Opfer. Dass Ausländer Österreicherinnen töten, ist eine seltene Ausnahme. Wobei das bei den versuchten Taten anders ist, wie Spiegl berichtet.
Interessant ist auch die Bundesländerstatistik: Überproportional viele Mordfälle gibt es in Wien und Niederösterreich. Bezogen auf die Bevölkerung sind die Oberösterreicher am friedlichsten. Auch in Tirol und Kärnten wird seltener gemordet als im Landesschnitt.
Richtig erschreckend sind aber die internationalen Zahlen: Pro Jahr werden rund 90.000 Frauen ermordet, 50.000 davon von Familienangehörigen. Auffällig ist laut Spiegl, dass vor allem in wirtschaftlich stärkeren Ländern (neben Österreich etwa Singapur, die Schweiz oder Südkorea) mehr Frauen als Männer gewaltsam getötet werden. Das Problemfeld Femizide sei etwa in Deutschland sehr ähnlich wie in Österreich.
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