Der siebenjährige Jonas wird im September nicht mehr in „seine“ Volksschule im ländlichen Niederösterreich zurückkehren. Seine Mama Andrea (50), hat ihn dort ab- und zum häuslichen Unterricht angemeldet, ab Herbst unterrichtet sie ihn dann zu Hause – Homeschooling kennen beide ja bereits. Jonas ist eines von insgesamt 3.396 Kindern im schulpflichtigen Alter, die bis Freitag laut Bildungsministerium von der Schule abgemeldet wurden. Das sind etwa ein Drittel mehr als noch 2019/20 (2.594).
„Besorgniserregend“ ist das für den nö. Bildungsdirektor Johann Heuras. In NÖ ist der Anstieg sogar noch höher, er liegt bei 40 Prozent. Den Grund sieht er ganz klar in den Corona-Maßnahmen: „Viele haben Sorgen wegen dem Testen, dem Impfen und den Masken.“
"Geht nur um Maßnahmen"
Auch bei Andrea K. war das ausschlaggebend dafür, dass sie ihren Sohn „herausgenommen“ hat. „Es ging und geht das ganze Jahr nur um Maßnahmen, zuerst testen, dann immer auf den Abstand achten, erst wenn alles erfüllt ist, kommt die Bildung dran, die ist in den Hintergrund gerückt“, betont die Shiatsu-Praktikerin.
Die Anmeldung für den häuslichen Unterricht sei ganz einfach gewesen – „ich habe ein Onlineformular ausgefüllt, da fragt keiner nach irgendwelchen Gründen. Die einzige Voraussetzung war, dass Jonas die letzte Klasse erfolgreich absolviert hat“, schildert sie. Im Herbst muss sie sich dann entscheiden, an welcher Schule ihr Sohn am Ende des Schuljahres eine Externistenprüfung über den Jahreslernstoff ablegen soll, das ist die gesetzlich vorgeschriebene Leistungsüberprüfung beim häuslichen Unterricht. Anders als beim coronabedingten Distance Learning wird Andrea K. aber nicht mit Lernpaketen versorgt, darum muss sie sich selbst kümmern.
Aus dem Bildungsministerium heißt es, dass viele Eltern sich dessen nicht wirklich bewusst seien und dass häuslicher Unterricht nicht mit dem bekannten Homeschooling vergleichbar sei. „Hier ist man auf sich alleine gestellt, da gibt es keine Unterstützung“, erklärt eine Sprecherin von Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP). Der sieht in den steigenden Zahlen zwar keinen gefährlichen Trend, weil es sich bei 700.000 Pflichtschülern nur um 0,5 Prozent handelt, dennoch möchte er, dass die Kinder in die Schule gehen.
Denn Schule sei nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung, sondern auch wichtig für die persönliche Entwicklung und die Sozialisation. Deshalb sollen auch Gespräche mit allen betroffenen Eltern geführt werden, um ihnen bewusst zu machen, was so ein Schritt für das Kind bedeutet. Diesen Weg verfolgt auch die NÖ Bildungsdirektion. „Die Situation mit den Eltern zu besprechen, kann auch für sie hilfreich sein, um ihnen die Sorgen und Angst zu nehmen“, ist Johann Heuras überzeugt, weswegen bereits Kontakt mit den Direktionen aufgenommen worden sei.
Recht und Pflicht
In Österreich gilt keine Schul- sondern eine Unterrichtspflicht. Kinder können häuslichen Unterricht oder eine Privatschule ohne Öffentlichkeitsrecht (kein Schulzeugnis) besuchen. Häuslicher Unterricht ist ein Überbleibsel aus der Zeit Maria Theresias und war für Adelige gedacht
649 Abmeldungen
zum häuslichen Unterricht gibt es aktuell in OÖ (2020: 299). In der Steiermark haben sich die Anträge von 423 auf 775 erhöht, in Salzburg mit 240 fast verdoppelt. In Tirol stieg die Zahl von 233 auf 424, in NÖ von 820 auf1.150, in Kärnten sind es mit 200 um 20 mehr. In Vorarlberg sind 93 registriert (116 im Vorjahr). In Wien wurde bisher kein Anstieg registriert (aktuell 190). Keine Angaben gibt es aus dem Burgenland
Dialog kann Abmeldung verhindern
Dass der Dialog mit den Eltern Schulabmeldungen verhindern kann, bestätigt Cornelia Wagner-Sturm, sie leitet die Schulzentren Aschbach-Markt und Wolfsbach in NÖ. Obwohl einige Erziehungsberechtigte zunächst überlegt hätten, wurden keine Schüler abgemeldet. „Die Eltern haben sich am besten gefühlt, wenn ich nachgefragt und zugehört habe.“ Vielen habe es schon geholfen, dass sie einmal offen sprechen konnten. Die Verunsicherung war und ist groß. Dazu kommen Whatsapp-Gruppen, in denen einseitige Informationen weitergegeben werden. „Da wird Stimmung gemacht. Ich habe manchen geraten, da auszusteigen und selber eine Entscheidung zu treffen.“ Eltern müssen sich laut Wagner-Sturm fragen, ob sie sich und der Familie häuslichen Unterricht zutrauen und den Kindern die Schulgemeinschaft vorenthalten wollen. „Das ist einfach eine große Herausforderung.“ Andrea K. hat keine Bedenken, dass Jonas Nachteile hinsichtlich seiner persönlichen Entwicklung haben wird, mehrmals wöchentlich soll er eine Lerngruppe besuchen.
Wer merkt, dass häuslicher Unterricht nicht funktioniert, kann sein Kind jederzeit wieder in der Schule anmelden. In der NÖ Bildungsdirektion rechnet man überhaupt damit, dass viele, ob der Unsicherheit hinsichtlich des Schulbetriebs im Herbst, ihre Kinder vorsorglich abgemeldet hätten, sie dann aber wieder anmelden.
Obwohl der Bildungsminister die Kinder lieber in der Schule, als im häuslichen Unterricht sieht, gebe es derzeit laut Ministerium keine Pläne, diese durch Maria Theresia geschaffene Möglichkeit aufzuheben.
Laut Bildungspsychologin Christiane Spiel ist die Zahl der Schulabmeldungen noch nicht dramatisch, allerdings sieht sie den Anstieg als sehr guten Anlass, um sich den häuslichen Unterricht genauer anzusehen. „Ich vermute, dass niemand Ihnen sagen kann, wie dieser Unterricht abläuft“, sagt die Expertin auf KURIER-Nachfrage.
Der Grund: bisher hätte keiner so genau darauf geachtet. „Ich kenne jedenfalls keine Untersuchungen dazu. Es kommt offensichtlich ganz auf die Eltern an oder die Privatschule ohne Öffentlichkeitsrecht, wie der Unterricht gemacht wird. Wichtig wäre auch zu wissen, wie die Externistenprüfungen durchgeführt werden“, sagt sie. Laut der Universitätsprofessorin darf auch nicht vergessen werden, dass die Schule nicht nur eine Qualifikationsaufgabe habe (d. h. Wissen und Kompetenzen zu vermitteln), sondern auch eine Sozialisationsaufgabe, man lerne mit und von anderen. Nirgendwo sonst komme man mit so vielen heterogenen Gruppen in Kontakt – sei es hinsichtlich Religion oder sozialer Herkunft. Dort lerne man Diversität kennen und mit ihr umzugehen.
Gleichzeitig kritisiert Spiel, warum niemand die Eltern bei der Abmeldung nach ihren Gründen fragt, auch daraus könnte man Erkenntnisse ziehen. „Ich glaube, die Gründe sind vielfältig, ich denke nicht, dass es nur die Corona-Maßnahmen sind.“ Ebenfalls wichtig wäre, die Leistungsentwicklung der Kinder nicht erst am Ende des Schuljahres festzustellen.
Seit Ausbruch der Pandemie sei die Zahl der Patientinnen und Patienten in ihrer Praxis gestiegen, berichtet die Wiener Kinderpsychologin Gabriela Krauland. Grund dafür sei bei vielen aber nicht das Homeschooling, sondern die Angst vor der Rückkehr in den schulischen Alltag – viele Kinder hätten sich an die soziale Isolation gewöhnt. „Kinder sind sehr anpassungsfähig“, so die Kinderpsychologin zum KURIER.
Nichtsdestotrotz sei die soziale Interaktion mit Gleichaltrigen besonders wichtig. Diese würde beim häuslichen Unterricht zu kurz kommen: „Die Schule ist nicht nur ein Ort der Vermittlung von Wissen, man lernt hier auch, sich an soziale Strukturen zu halten, mit Konflikten umzugehen, mit Kränkungen und Misserfolg. Schule ist ein Ort der Identitätsfindung.“
Zudem würde das Homeschooling die Beziehung zu den Eltern beeinflussen, meint Krauland: Der Erziehungsberechtigte werde plötzlich zum Lehrer: „Schule ist immer auch ein Ort, wo Zwang und Regel herrschen – oft mehr als zuhause. Man muss Grenzen einhalten. Das fällt leichter, wenn man die Person nicht kennt, wenn eine gewisse Distanz zwischen Schüler und Lehrer herrscht. Das kann zu Konflikten zuhause führen.“
Krauland rät, sowohl Kinder als auch Erwachsene betreffend: „Wir alle mussten einen Weg finden, mit dieser neuen Situation umzugehen. Die Ängste der Menschen sind ganz individuell.“ Krauland erinnert an die eingangs erwähnte Anpassungsfähigkeit, diese gelte auch für das Tragen von Masken: „Die Kinder haben schnell gelernt, trotzdem zu kommunizieren und die Gefühle des Gegenübers zu erkennen. Vieles deutet daraufhin, dass sie sich schnell angepasst haben.“
Kommentare