Alarmstimmung: Tag für Tag rückte die Krankheit bedrohlich näher, die Opferzahl im Nachbarland stieg. Beraten von ihren Experten, blieb der Regierung nichts anderes übrig, als umfangreiche Quarantäne-Maßnahmen zu beschließen. Man sei sogar bereit, massive wirtschaftliche Einbußen in Kauf zu nehmen und den Handel fast zum Erliegen zu bringen, wenn sich so Infektionen verhindern ließen.
Rationale Maßnahmen? Nicht für alle. Es gab Leute, die eine ganz andere Geschichte erzählten: Infizierte sollten in ihren Häusern festgesetzt oder zwangsweise in Quarantänezentren überstellt werden. Notfalls sollte das Militär jede Bewegungsfreiheit unterbinden. Es sei klar, worum es hier gehe: Die Errichtung einer Willkürherrschaft.
Wer jetzt glaubt, wir befinden uns im Jahr 2020 und reden über Corona, irrt: Das geschilderte Szenario hat sich vor 300 Jahren zugetragen, als man in England ängstlich nach Südfrankreich blickte, wo in Marseille die Pest ausgebrochen war.
Entdeckt hat die Geschichte mit den verblüffenden Parallelen zu heute Andre Krischer.
Lesen Sie hier mehr über Richard Mead und die Verschwörungstheorien, die nach dem Seuchen-Ausbruch aufkamen.
Der Epidemiologe Richard Mead und der Virologe Christian Drosten sind die Gesichter von Krisen, die 300 Jahre trennen und doch sehr viele Parallelen haben:
Richard Mead,1673 nahe London geboren, stammte aus bürgerlichen Verhältnissen, studierte Medizin in Holland und Italien. Zurück in London gelang ihm der Aufstieg. Er war begabt im Vermarkten seiner Erkenntnisse. Als während der Pest-Epidemie große wissenschaftliche Unsicherheit herrschte, war er derjenige, der Antworten gab. Wie 300 Jahre später Christian Drosten bei Corona.
Der deutsche Virologe bringt im NDR-Podcast Virus-Wissen unters Volk. Und eckt dabei an – wie anno dazumal auch Mead.
Andre Krischer, der deutsche Historiker vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster, erzählt: „Als Corona kam, fiel mir ein, dass ich eine Arbeit in der Schublade hatte, die plötzlich ungeahnte Aktualität bekam. 1720/21 gab es in London eine heftige Diskussion darüber, ob Maßnahmen, die man ergriffen hatte, weil die Pest in Frankreich ausgebrochen war, nicht der Versuch waren, die armen Engländer zu unterjochen.“ Dass Seuchen-Prävention Verschwörungstheoretiker auf den Plan ruft, wiederholt sich laut Krischer in der Geschichte.
Im Zentrum der Debatte stand damals wie heute ein Arzt. Richard Mead war der Christian Drosten des 18. Jahrhunderts, sagt Krischer. Dazu muss man wissen: 1720 ist man sich nicht im Klaren, wodurch die Pest hervorgerufen wird. Das konnte man naturwissenschaftlich erst am Ende des 19. Jahrhunderts erklären. „Davor war eine ganz andere Theorie verbreitet“, sagt der Historiker. „Bis heute sprechen wir von verpesteter Luft. Man dachte, Luftschwaden, die aus der Erde aufsteigen, machen pestkrank. Wenn das stimmte, wären Quarantäne-Maßnahmen natürlich sinnlos.“ Eine Minderheit von Medizinern sagte aber bereits damals: „Das ist Quatsch!“ Die Pest verbreitet sich, weil sich Leute anstecken. Krischer: „Das war eine damals revolutionäre Theorie, die Quarantäne-Maßnahmen Sinn gab. Und als einer der Ersten vertrat Mead die Ansteckungstheorie.“
Mister Pest
Der Mediziner hatte einen kometenhaften Aufstieg hinter sich: Sein wichtigster Förderer was Sir Isaac Newton, Naturforscher und Präsident der Royal Society. Als dieser sorgte Newton dafür, dass Mead Vizepräsident wurde. Er war praktizierender Arzt, den sogar die königliche Familie und der Premierminister bei diversen Leiden zurate zogen. Mit einem Wort: Er kannte die Mächtigen.
Krischer: „Das rief auch damals Neider auf den Plan. Es gab Gerede: Das Establishment steckt unter einer Decke, und die wollen sich ohnedies nur bereichern.“ Offenbar lasse sich umso leichter ein Skandal aus etwas machen, „wenn wissenschaftlich unsichere Expertisen politische Relevanz erlangen“. Und mit Galionsfiguren verknüpft werden können – mit dem Virologen Christian Drosten 2020 und dem Epidemiologen Richard Mead 1720/21, analysiert der Historiker.
Gegenwind kam auch von der Kirche: Die Pest sei eine Strafe Gottes, besonders für London, diesen Sündenpfuhl. Gegen die Seuche helfe nur Fasten, Beten, Buße und die gefasste Vorbereitung auf den Tod.
Dass es dann ausgerechnet ein Kirchenfürst war, der gegen die Fake News wetterte, ist Ironie der Geschichte: Edmund Gibson, Bischof von London, beklagte in einer Flugschrift „Lügen und Falschnachrichten. Manche würden sogar behaupten, dass die Seuche den Briten überhaupt nichts anhaben könne.“ Damit bringe man das Leben der Mitmenschen in Gefahr.
Selbstbewusste Engländer
Dass sich die Gemüter gerade in England erhitzten, sei auch kein Zufall: „London hatte schon 1720 eine sehr selbstbewusste Öffentlichkeit mit Kaffeehäusern und einer vielfältigen Presselandschaft, die von keiner Zensur reglementiert wurde.“ Außerdem dachte man damals ständig in verschwörungstheoretischen Kategorien: Entweder fürchtete man sich vor der Unterwanderung durch Papisten – also Katholiken –, oder man unterstellte den jeweils Herrschenden, eine Willkürherrschaft errichten zu wollen.
Klingt bekannt, oder? Historiker Krischers Fazit: „Epidemien sind immer auch Stresstests für Gesellschaften.“
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