Nach dem Angriff des Iran auf Israel befürchtet die Welt einen Flächenbrand in der arabischen Welt. Zeit für einen Blick in die Geschichte der Region und auf das Sykes-Picot-Abkommen.
Im Dezember 1915 eilt Mark Sykes mit einer Landkarte in die Downing Street 10. Der junge britische Abgeordnete will vor dem Kriegskabinett ein Konzept präsentieren, wie England und Frankreich nach einer möglichen Niederlage des Osmanischen Reiches die arabische Welt unter sich aufteilen könnten. „Ich würde eine Linie ziehen vom ,e‘ von Acre bis zum letzten ,k‘ von Kirkuk“, schlägt Sykes vor, bekommt grünes Licht und startet Verhandlungen mit dem französischen Diplomaten François-Georges Picot. Ende Februar ist man sich einig und das Sykes-Picot-Abkommen absegnet – und damit die künftige Landkarte des Orients.
Zum 100-Jahr-Jubiläum des Paktes 2016 streuen Analysten Asche auf das Haupt sämtlicher westlicher Kolonialisten. „Mit ein paar Federstrichen zerstörten Briten und Franzosen vor hundert Jahren die Konfliktsicherungsmechanismen der Osmanen im Nahen Osten. Und legten damit den Grundstein für viele der Konflikte, die noch heute die Region und die Welt beschäftigen“, schreibt etwa die FAZ. „Selbst unter den Maßstäben der Zeit war es ein schamlos eigennütziger Pakt“, urteilte der britische Historiker James Barr. Sykes’ gerade „Linie im Sand“, teilte die Region in westliche Machtsphären – ungeachtet ethnischer und konfessioneller Grenzen, quer durch Stammesgebiete.
Im kollektiven Bewusstsein der Araber ist Sykes-Picot als Verrat abgespeichert. Und tatsächlich waren die Kolonialmächte unehrlich. „Großbritannien und Frankreich spielten ein gefährliches Doppelspiel“, sagt der Historiker Hannes Leidinger. Man versprach die Levante gleich drei Parteien:
1915 den Arabern
1916 teilten London und Paris das Gebiet unter sich auf
1917 sagte der britische Außenminister den Juden eine „nationale Heimstätte in Palästina“ zu.
Die widersprüchlichen Versprechen waren Ein Frieden, der jeden Frieden beendete, so der Titel des Standardwerks von US-Historiker David Fromkin zum Thema. Vor dem Ersten Weltkrieg sei die arabische Welt „schläfrig“ gewesen, schreibt er weiter. Mit der neuen Ordnung sei der Nahe Osten jedoch mit „zunehmender Unordnung“ „turbulent“ geworden.
Unter osmanischer Herrschaft war die Region relativ friedlich, sagen Historiker. Die Osmanen hätten durch kleinteilige Aufteilung und effiziente Verwaltung Konflikte vermieden, die aufkommen, wenn viele verschiedene Gruppen in einem Staat zusammenleben. Mit der Zerstörung des um 1300 gegründeten Osmanen-Reichs seien die Westeuropäer zu Besatzern in der Region und für sie verantwortlich geworden. Kolonialbeamte zogen Grenzen, die den Interessen der Kolonialmächte folgten.
„Diese Interessen spielen eine große Rolle. Stichwort: Bodenschätze wie Öl, Bahnlinien wie die Bagdad-Bahn, Häfen und Handelswege.
Drei osmanische Provinzen wurden zusammengelegt und „Irak“ genannt. Drei andere Provinzen hießen nun Syrien, ohne dass es solche Nationen gegeben hätte. Um diese künstlichen Gebilde zusammenzuhalten, bedurfte es erst der Kolonialstaaten, dann repressiver Diktaturen. Das autokratische Libyen, das nur mit massiver Gewalt zusammengehalten werden konnte, war ein weiteres Beispiel.
In den kommenden Jahrzehnten kamen dann unzählige weitere, teils lokale Streitereien dazu. Historiker Leidinger warnt daher davor, alles auf das Sykes-Picot-Abkommen zurückzuführen: „Zu viele Faktoren, Interessen, Entwicklungen prägen den Konflikt bis heute, als dass man ihn nur auf die Kräfteverhältnisse von 1916 reduzieren könnte“.
(kurier.at, smw)
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Aktualisiert am 22.04.2024, 05:00
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