Stottern bei Kindern: Wann es bleibt und wann es verschwindet
Rund um das Stottern gibt es immer noch viele Vorurteile und Halbwahrheiten. Besonders Kinder leiden darunter. Jede Therapie muss individuell abgestimmt sein.
Andrea Chinaglia ist für Transparenz. Offenheit. Ehrlichkeit. Dafür steht er ein. Lebt diese Werte. Also erzählt er auch frei von der Leber weg darüber, dass er als Kind stark gestottert hat und die Symptomatik auch heute noch manchmal aufbrandet, wenn er nervös, aufgeregt ist oder sich in anderen Ausnahmesituationen befindet.
Peinlich ist ihm das nicht, er erzählt davon ohne jegliche Scham. Und wieso auch nicht? "Zu stottern hat absolut nichts mit der eigenen Intelligenz zu tun", betont er. "Wir Stotternden wissen ganz genau, was wir sagen wollen. Wir können es nur leider nicht immer."
Genau das habe er - damals zarte 9 Jahre alt - auch dem Ausstellungsleiter im Rahmen eines Schulausfluges gesagt, als sich Schüler Andrea, immer schon redefreudig, mit einer Frage zu Wort meldete, diese aber nicht flüssig artikulieren konnte. Weil die Worte zu sehr purzelten. Vielleicht, weil er zu aufgeregt war.
Die Reaktion des Ausstellungsleiters? "Denk nach, bevor du redest!" Daran kann sich Andrea bis heute erinnern. So etwas vergisst man nicht.
Stottern ist eine Redeflussstörung bzw. Kommunikationsstörung.
Die Kernsymptome:
Wiederholungen von Buchstaben und/oder Silben ("Der Ur-Ur-Ur-Urlaub hat mir gut gefallen!")
Dehnungen bzw. lang gezogene Laute: ("Daaaaarf ich ein Eis haben?")
Blockaden ("H-----hallo, Mama!")
Die Begleitsymptome:
Anspannung/Verziehen der Gesichtsmuskulatur
Mitbewegen des Kopfes, des Oberkörpers und/oder der Arme
Blinzeln
Zittern der Lippen
Schwitzen
Verändernde Atmung
Austauschen von Wörtern, Benutzen von Füllwörtern, Umschreibungen, Vermeiden von anstrengenden Anfangsbuchstaben, Satzabbrüche, u.ä.
Psychische Symptome: Sprechängste, Rückzug, Aggressionen, Fluchtverhalten, etc.
Apropos heute: Andrea Chinaglia verdient sich seinen Lebensunterhalt als Logopäde - und das mit großer Leidenschaft.Im Gespräch mit ihm bekommt man den Eindruck, der Kärntner hat seine - vermeintliche - Schwäche nicht nur zum Beruf, sondern zur Berufung gemacht. Er hilft sowohl Erwachsenen als auch Kindern, mit ihren Sprechstörungen umzugehen. Ist besonders empathisch, weil er selbst weiß, wie das ist, wenn man die Kontrolle über das Reden verliert. Besonders für Kinder kann das eine Belastung sein.
"Schon im Kleinkindalter nehmen Betroffene wahr, dass sie stottern", betont der Experte. Stottern ist nicht nur eine ständige körperliche, sondern auch mentale Anstrengung. Auf die Psyche kann sich Stottern bei Kindern deshalb massiv negativ auswirken, von einem geringen Selbstwertgefühl bis hin zu Frustration, Scham- und Kontrollverlustgefühlen sowie Wut gegen sich selbst.
"Man ist beim Stottern nicht man selbst", bringt es Chinaglia auf den Punkt und ergänzt: "Im schlimmsten Fall kann Stottern zu großer Sprechangst, Panikattacken und sozialem Rückzug führen. Ein Teufelskreis aus Furcht und Vermeidung entsteht." Kinder - und natürlich auch Jugendliche - haben allen voran Angst vor negativen Reaktionen auf ihr Stottern. "Das Hänseln kann leider nicht nur bei Mitschülern, sondern auch bei Lehrpersonen auftreten", weiß der Logopäde aus Erfahrung zu berichten. Auch deshalb tritt Chinaglia mit aller Kraft dafür ein, das Tabu Stottern zu durchbrechen.
Die Ursachen sind komplex und vielfältig
Aber was sind die Ursachen für Stottern? "Diese sind immer noch nicht gänzlich geklärt", so Chinaglia. "Fest steht, dass die Ursachen komplex sind und ein Auftreten von Stottern von mehreren Aspekten abhängt, die einander bedingen." Als erforscht gilt, dass die genetische Komponente eine große Rolle spielt. "Haben die Eltern oder Großeltern bereits gestottert, ist die Möglichkeit groß, dass es auch beim Kind auftreten könnte."
Ob das Stottern aber schlussendlich tatsächlich ausbricht, hängt auch von anderen Faktoren ab, wie psychische Belastungen oder/und plötzlich auftretende Veränderungen (z.B. die Geburt des Geschwisterchens oder die Einschulung). Wichtig ist: All diese Aspekte können zwar (aufrechterhaltende und verstärkende) Auslöser sein, sind aber niemals die eigentliche Ursache.
"Stottern ist keine psychische Krankheit, sondern eine neurologisch bedingte Störung des Redeflusses", betont Chinaglia. "Tritt eine Ausnahmesituation auf, kann diese das Fass eventuell zum Überlaufen bringen." Oder anders ausgedrückt: "Gerät die Waage zwischen den Anforderungen des Alltags und dem persönlichen Seelenleben aus dem Gleichgewicht, begünstigt dies auch das Stottern." Den Mythos, dass besonders sensible Kinder fürs Stottern anfällig seien, kann der Experte aber nicht bestätigen.
Störung des Zusammenspiels der Gehirnareale
Mehrere Studien konnten bereits belegen, dass sich die Sprachverarbeitung im Gehirn von stotternden Kindern vom jener nicht-stotternder Kinder unterscheidet. "Es besteht ein Ungleichgewicht zwischen der Aktivität beider Hirnhälften", erläutert Experte Chinaglia. "Es kommt es zu einer übermäßigen Hemmung des linken Gyrus frontalis inferior und somit auch zur Hemmung der sprechmotorischen Steuerung."
Diese Erklärung klingt zwar nachvollziehbar, doch eine Frage bleibt weiterhin bestehen, wie Chinaglia kritisch einwirft: "Das Stottern tritt unregelmäßig auf. Wieso reagiert das Gehirn in manchen Phasen wie zuvor beschrieben, in anderen aber nicht?" Klar widerlegt ist dafür bereits: Sogenannte "falsche Atemtechniken" haben nichts mit dem Stottern zu tun.
Insgesamt stottern nur zwischen 0,7 und 1 Prozent der Menschheit. In Österreich sind es rund 80.000 Menschen.
Etwa 5 Prozent der Kinder stottern. Meistens tritt die Symptomatik das erste Mal zwischen zwei und sechs Jahren auf. Bei circa 25 Prozent der stotternden Kinder entwickelt sich ein anhaltendes Stottern. Buben sind dreimal so häufig betroffen als Mädchen. Mit zunehmendem Alter sind sie sogar vier- bis fünfmal so häufig betroffen.
Gekommen, um zu bleiben?
Eine der häufigsten Fragen seitens der Eltern, mit denen Chinaglia als Logopäde konfrontiert wird: Hört das Stottern wieder auf? Oder wird das Kind damit leben müssen? "Dies lässt sich nur sehr schwer vorhersagen", gibt Chinaglia zu. "Der Verlauf ist genauso wie die Symptomatik und das Kind selbst: höchst individuell."
In den allermeisten Fällen tritt eine Stottersymptomatik im Alter zwischen zwei und sechs Jahren das erste Mal - und sehr plötzlich - auf. In dieser Phase lernt das Kind das Sprechen und durchschreitet sehr viele Entwicklungsphasen. Simpel ausgedrückt: Das Gehirn denkt während dieser Zeit schneller als der Mund die Gedanken aussprechen kann.
Obwohl es sich hier streng genommen um weniger stark ausgeprägte Sprechunflüssigkeiten handelt, spricht man während dieser Phase gerne vom "Entwicklungsstottern". Dieses ist zwar an sich nichts Ungewöhnliches und besitzt auch noch keinen Krankheitswert hat, trotzdem warnt Chinaglia: "Der Begriff des 'Entwicklungsstotterns' suggeriert, dass man sich in falscher Sicherheit wiegen darf. Weil Eltern glauben, Stottern sei 'eh normal', suchen sie erst sehr spät einen Sprachtherapeuten auf, was den Erfolg der Behandlung verringern kann."
Bei 60 bis 80 Prozent der Kinder, die eine entwicklungsbedingte Form des Stotterns zeigen, tritt eine spontane Remission auf; oft bereits vor dem sechsten Lebensjahr, spätestens aber zu Beginn der Pubertät. Geschieht dies nicht, sollte eine Abklärung beim Kinderarzt bzw. beim Logopäden erfolgen, denn es könnte sich um persistierendes, also chronisches Stottern handeln, das den oder die Betroffene/n ein gesamtes Leben lang begleiten kann (aber nicht muss).
Generell gilt: Je länger ein Kind bereits durchgehend stottert, eventuell gar mit Verstärkung der Symptomatik, desto größer ist die Gefahr eines überdauernden Stotterns. Nach der Pubertät ist eine vollständige Remission unwahrscheinlich.
Das Stottern verläuft in Phasen, unterliegt starken Schwankungen und tritt häufig situationsbedingt auf. Auch hier gilt: Ist die zuvor angesprochene Waage aus dem Gleichgewicht geraten, schlagen die Wörter eventuell wieder stärker Purzelbäume. Chinaglia: "Negativer Stress verstärkt das Stottern." Umgekehrt gilt natürlich: Je entspannter das Kind ist, desto flüssiger funktioniert das Sprechen. Aus diesem Grund tritt die Stottersymptomatik auch meist nicht auf, wenn das Kind mit dem Haustier spricht oder im Spiel mit sich selbst vertieft ist.
"Je früher eine Redeflussstörung behandelt wird, desto größer ist der Erfolg", betont Chinaglia einmal mehr. "Besonders, wenn der Leidensdruck bereits groß ist, sollte rasch fachliche Hilfe zugezogen werden." Heilbar sei Stottern zwar nicht, jedoch "sehr gut behandelbar", gibt der Experte Mut. Ziele der logopädischen Therapie sind unter anderem eine gesteigerte Selbstwahrnehmung, Angstreduktion, eine positive Einstellung zum Stottern, Stärkung des Selbstbewusstseins, Schaffung von Grundlagen entspannter Gesprächssituationen sowie das Erlernen eines "lockeren Stotterns".
Im Rahmen der stets individuell angepassten Therapie wird nicht nur am Symptom selbst gearbeitet (anhand spielerischer Übungen), sondern auch das soziale Umfeld miteinbezogen, um stressfreie Sprechsituationen zu schaffen. Medikamentös ist Stottern nicht behandelbar.
Nicht nur auf die Psyche des Kindes, sondern auch auf jene der Eltern und in Folge auch auf die Eltern-Kind-Beziehung kann sich kindliches Stottern negativ auswirken. Als Grundregel empfiehlt Chinaglia: "Gehen Sie offen mit der Thematik um, sprechen Sie das Stottern feinfühlig, aber niemals wertend an. Weg-schweigen lässt es sich ohnehin nicht. Das Entscheidende ist nicht das Ob, sondern das Wie."
Strahlen Sie Gelassenheit und Ruhe aus und akzeptieren Sie die Art und Weise, wie Ihr Kind spricht. "Setzen Sie Ihr Kind keinesfalls unter Druck, indem Sie beispielsweise sein Stottern korrigieren oder es einem großen Leistungsdruck aussetzen", rät der Logopäde. "Denken Sie daran: Ein wohlwollendes, positives Umfeld ist das A und O bei stotternden Kindern. Die Einstellung der Eltern bezüglich dem Stottern hat erheblichen Einfluss auf den Verlauf." Ein negatives Sprecherlebnis brauche für die Kompensierung mindestens fünf positive Sprecherlebnisse.
Sprechen Sie das Stottern feinfühlig und auf Augenhöhe offen an. Fragen Sie Ihr Kind nach seinen Gefühlen beim Stottern.
Seien Sie ein gutes Vorbild: Sprechen Sie selbst langsam und deutlich.
Vermeiden Sie in Gesprächen Hektik. Strahlen Sie Gelassenheit aus und schaffen Sie eine entspannte Gesprächsatmosphäre.
Hören Sie Ihrem Kind geduldig zu. Unterbrechen Sie es niemals und beenden Sie nicht den Satz des Kindes. Bei Jugendlichen kann es helfen, zu fragen: „Soll ich dir helfen, den Satz für dich zu beenden?“
Haben Sie gerade keine Zeit für ein Gespräch, kommunizieren Sie das klar, aber freundlich.
Halten Sie beim Gespräch Blickkontakt mit dem Kind.
Vermeiden Sie (falsche) Ratschläge wie "Denk nach, bevor du sprichst!", "Atme tief durch!" oder "Sprich langsamer!". So wird beim Kind nur noch mehr Druck erzeugt.
Korrigieren Sie das Stottern des Kindes nicht. Reagieren Sie auch nicht bewertend. Auch „Heute hast du aber toll gesprochen!“ kann Druck erzeugen. Vermitteln Sie aber deutlich, dass Sie das Gesagte verstanden haben.
Akzeptieren Sie, wie Ihr Kind spricht. Wichtig ist der Inhalt - und nicht das WIE.
Vermeiden Sie häufiges Nachfragen. Akzeptieren Sie, wenn Ihr Kind gerade etwas nicht erzählen möchte.
Setzen Sie auch andere Verwandte sowie Lehrpersonen in Kenntnis.
Denken Sie immer daran: Kein Kind muss perfekt sein, auch Ihres nicht! Listen wie „10 Dinge, die mein Kind gut kann“ können dabei helfen.
Fest im Leben stehend trotz purzelnder Worte
Andrea Chinaglia kann heute mehr als souverän mit seinem Stottern umgehen. Neben seiner Arbeit als Logopäde unterrichtet er auch zu diesem Thema und ist zusätzlich in der Forschung tätig. In bestimmten Situationen mögen seine Worte noch purzeln, er selbst steht aber felsenfest im Leben. Der glückliche Familienvater hat sich - das ist auch im Interview zu bemerken - seine Freude am Reden niemals nehmen lassen. Was er stotternden Kindern mit auf den Weg geben möchte? "Egal, was andere behaupten mögen: Es ist mehr als okay so, wie du bist."
Kurz zusammengefasst
Stottern ist eine neurologisch bedingte Kommunikationsstörung.
Meistens ist Stottern genetisch bedingt. Psychische Aspekte können der Auslöser sein, aber niemals die Ursache.
25 Prozent der stotternden Kinder entwickeln ein chronisches Stottern.
Stottern unterliegt starken Schwankungen und tritt phasenweise auf. Negativer Stress kann verstärkend wirken.
Stottern kann massive psychische Auswirkungen auf Kinder haben, wie z.B. Redeangst oder sozialer Rückzug.
Stottern ist nicht heilbar, aber gut behandelbar.
Eine Therapie ist umso erfolgreicher, je früher sie begonnen wird. Jede Therapie muss individuell abgestimmt sein.
Es ist ausschlaggebend, dass Eltern offen und positiv mit dem Stottern des Kindes umgehen. Dazu gibt es einige Do's und Don'ts.
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